Rollenspielsucht, , WoW-Sucht, Onlinesucht, Medienverwahrlosung und ADHS
WoW (World-of-Warcraft) Rollenspielsucht und Mediensucht im Internet, Fernsehen oder Spielkonsolen stellen ein besonderes Risiko für Jugendliche und Erwachsene mit ADHS / Hyperaktivität bzw. einer generellen Überempfindlickeit für Reize (z.B. bei Hypersensitivität / Hochbegabung) dar. Häufig geben die Betroffenen an, dass sie überwiegend "aus Langeweile zocken". Doch die Besonderheiten der Informationsverarbeitung bei Vorliegen einer ADHS-Konstitution mit den Besonderheiten der Reizfilterschwäche und Problemen der Impulskontrolle macht es in der Folge weit schwerer, mit der Medienüberflutung durch virtuelle Welten umzugehen bzw. den "Ausschalter" zu nutzen. Vielmehr wird der Computer oder die Spielekonsole zum allseits präsenten Lebensersatz, wobei für viele Betroffenen überhaupt nicht mehr bewusst wird, dass es alternative Entscheidungsmöglichkeiten und Herausforderungen ausserhalb der Rollenspielwelten geben könnte.
ADHS als Störung der Regulationsdynamik
Der Begriff ADHS = Aufmerksamkeits-/ Hyperaktivitäts-Störung mit oder ohne Hyperaktivität wird fast zwangsläufig mit dem "Zappelphilipp" bzw. Kindern mit einem hyperkinetischen Syndrom (HKS) gleichgesetzt. Häufig ist es aber so, dass mit der Pubertät die Symptomatik sich eher wandelt und leichte Ablenkbarkeit, hohe emotionale Empfindlichkeit bzw. rasche Stimmungswechsel, Intoleranz von Langeweile und Monotonie sowie eine verminderte Impulskontrolle bzw. geringe Frustrationstoleranz auffällt. Die klassischen Diagnosekriterien haben sicherlich ihre Berechtigung, helfen aber zum funktionellen Verständnis der Problematik bzw. der häufigen Folgeprobleme kaum weiter.
Ein regulationsdynamischer Ansatz erlaubt statt der klassischen Aussensicht (deskriptive Psychopathologie) eher eine Innensicht bzw. eine funktionale Betrachtung der Besonderheiten von Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen mit Besonderheiten in der Steuerung von Aufmerksamkeit, Gefühlen bzw Selbstorganisationsfertigkeiten. Die nachfolgenden Hypothesen zu einem funktionellen Verständnis von Medienverwahrlosung und Rollenspielsucht / Onlineabhägigkeit gelten sicher nicht nur für Jugendliche und Erwachsene mit ADHS, bei ihnen sind die Merkmale aber häufig besonders ausgeprägt.
Regulationsdynamik kann man vielleicht am ehesten mit einem Mischpult mit Reglern und Knöpfen vergleichen. Menschen mit einer ADHS-Konstitution weisen eine andere Art der Regulation von Aufmerksamkeit und Konzentration, Emotionen aber auch vielen anderen Körper- und Hirnfunktionen auf. Vereinfacht gesagt: Ihre Regler schlagen viel stärker aus bzw. lassen sich weit weniger leicht regulieren, da seltener eine "Neutral-Null-Stellung" besteht. Vielmehr reichen schon Kleinigkeiten, um heftige Gefühlsausschläge oder aber einen Einbruch der Aufmerksamkeit auszulösen.
Andererseits kann es - gerade bei Jugendlichen und Erwachsenen - dazu kommen, dass die Regler "klemmen". Das bedeutet, dass z.B. die Stimmung oder die Motivation scheinbar plötzlich total fehlt oder aber bestimmte Verhaltensmuster immer und immer wieder ablaufen, ohne dass eine wirkliche Kontrolle und bewusste Einflussnahme des Gehirns stattfindet. Dies ist besonders bei ADHS-Betroffenen relevant, weil man heute davon ausgeht, dass die bewusste Handlungsplanung und Kontrolle von Aktivitäten im Frontalhirn (quasi der Systemadministrator des Gehirns, der die Aufgaben und Handlungen koordiniert) gestört (quasi unteraktiv) ist.
Wenn das Gehirn ein Computer wäre...
Aufgrund der häufig eher fehlenden Eigenmotivation für Veränderung (d.h. Aufgeben der Computerspielsucht) und der geringen Aufmerksamkeitsspanne habe ich es bei Vorgesprächen in der Klinik auf unserem ADHS-Schwerpunkt nicht immer ganz leicht die Aufmerksamkeit für das Problem zu "fangen". In einem Thema sind die Betroffenen aber natürlich "Experten" und das sind alle Themen rund um den Computer und das Internet bzw. die virtuellen Welten der Spiele.
Das einfache ADHS vergleiche ich dabei gerne mit einem Bildschirmschoner auf meinem PC. Nur bei neuen, spannenden (z.B. Wettkampf oder Herausforderungen), schnell wechselnden Situationen, bei Einfordern von Hilfsbereitschaft oder unter Torschlusspanik ist der Bildschirm hell. Dann können häufig sogar Konzentrationsleistungen bzw. Wahrnehmungsfertigkeiten abgerufen werden, die die von den "StiNos" (den "Stinknormalen") weit überlegen sind.Bei Monotonie und Langeweile, wiederkehrenden Aufgaben bis zur Routine, fremdbestimmten Aufgaben ohne Anreizcharakter und bei einer Negativstimmung durch Vorwürfe oder eher hilflose Aufforderungen der Änderung um sie herum, bleibt der Bildschirm "dunkel". Nur wenn im Vorfeld eine Sache (oder Person) als positiv bewertet wird, kann überhaupt ein aktiver Aufmerksamkeitsprozess (= Einschalten des Gehirns) erfolgen.
Das mag ein wenig erklären, warum Ermahnungen und Moralisieren über die ständige Computer-Spielerei durch Eltern, Pädagogen oder Psychotherapeuten eher "abprallen" und vermutlich sogar letztlich das Problem nur noch verschärfen. Diese Botschaften kommen nicht "an" und sind dem "Erfahrungslernen" der Betroffenen nicht wirklich zugänglich. Wenn sie nicht schon vorher innerlich auf "Durchzug" geschaltet haben, kann allein das Vornehmen einer Änderung noch lange nicht die Aufmeksamkeits- und Handlungsprozesse verändern.
Je länger das Problem besteht, desto mehr "Fenster" im Gehirn werden unerledigt offen bleiben. Das werden häufig negative Themen sein, die in der Wertigkeit von nicht zurückgestelltem Geschirr unter dem Bett bis zum Abbruch der Schule oder Ausbildung reichen können. Häufig sind aber hunderte, ja tausende negativ besetzte Themen zu finden, die sich häufig ähneln. Da viele ADHSler eben stark in Bildern wahrnehmen und denken, laufen in ihrem Kopf dann immer wieder "Kopfkino-Vorstellungen" mit sehr negativen Themen ab. Davon haben sie (mehr oder weniger ja durchaus verständlich) dann irgendwann "genug" und sie suchen sich Stimulationen, die diesem Grübeln bzw. Negativbildern einen Kontrast bieten können. Gerade bei Vorliegen von schweren Formen der verhaltensbezogenen Süchten sehen wir Klienten, die komplexe Angststörungen, Zwänge, immer stärker werdende Stimmungsschwankungen mit depressiven Phasen bis zu komplexen dissoziativen Symptomen aufweisen. Diese Probleme verlaufen für die Aussenwelt lange unerkannt bzw. erscheinen angesichts der Spielsuchtproblematik mit der Aufgabe von normalen Tagesaktivitäten der Selbstversorgung, Schule / Studium oder Aufgabe und soziale Kontakte eher sekundär. Doch häufig genug verstärken sich eben gerade die negativen Bilder bzw. immer wieder scheinbar unkontrollierbar ablaufenden Gedanken und Handlungsmuster und die extremen Bilder der Spiele eher gegenseitig.
Einen PC muss man von Zeit zu Zeit runterfahren bzw. abschalten. Auch wenn dies bei vielen "Zockern" natürlich kaum passiert, so verstehen sie doch :Wenn zu viele Dateifragmente auf der Festplatte bzw zu viele Fenster gleichzeitig auf sind, dann wird der Rechner langsamer, stürzt häufiger ab. Das kann man sich in den Spielen nicht erlauben. Beim Herunterfahren bzw. Neustart räumt der Rechner auf. Diesen Sortierprozess für "Müll" auf der Festplatte bzw. im Dateiverwaltungssystem klärt auch den Prozessor, da nicht immer Verwaltungs- und Sortieraufgaben erfolgen müssen.
Ganz analog zu diesem Vergleich läuft auch im Gehirn des Menschen ein entsprechendes "Sortier- und Defragmentierungsprogramm". Und zwar im Schlaf, genauer in der REM-Schlafphase, in der man träumt.
Je früher und intensiver die Medienberieselung normale Verhaltensmuster und Aktivitäten mit anderen Kindern und Jugendlichen, sportliche Aktivitäten und Naturerlebnisse etc. ersetzt, desto problematischer wird die Verarbeitung dieser Medienflut. Unser Gehirn ist schlicht überfordert, die mediale Bilderflut in der Nacht zu sortieren. Nicht selten mit desolaten Verkennungen zwischen Realität und Fiktion.
Was ist Aufmerksamkeit auf "neurobiologisch"?
Aufmerksamkeit ist ein aktiver Prozess, der auch Energie kostet und mehr oder weniger zielgerichtet sein muss. Das Gehirn wird zwar bei einer neuen, interessanten Sache den Fokus (= quasi ein innerer Such-Scheinwerfer) auf die neue Sache lenken. Das Problem liegt bei ADHS eher darin, dass dieser Aufmerksamkeitsprozess auf eine Tätigkeit immer wieder neu verstärkt werden muss bzw. das Ablenken verhindert werden muss. ADHSler haben das Problem, dass die Verstärkerfunktion der Aufmerksamkeit rascher nachlässt, dafür aber die Reizfilterung für Lärm, Licht oder andere Aktivitäten um sie herum viel schlechter verläuft. Das gilt übrigens auch für die Wahrnehmung von eigenen Erfolgen. Gerade zu Beginn der Schulzeit sind viele ADHSler noch extrem interessiert und haben auch Erfolge. Nur können sie sich darüber nicht (lange genug) freuen, werten es rasch ab oder springen gerade beim Erreichen eines Ziels zu einer völlig anderen Aktivität. Sie haben also häufig auch ein "Belohnungs-Defizit-Syndrom" . Wirklichen stolz über ein erreichtes Ziel sind sie selten lang (z.B. auch über einen Schulabschluss), immer wieder muss eine neue Sache bzw. eine neue Herausforderung zur Stimulation gesucht werden.Der "Motor" der Aufmerksamkeitssteuerung ist der Botenstoff-Dopamin. Dopamin ist eine Art "Stimulator", da es immer dann in bestimmten Filterregionen des Gehirns ausgeschüttet wird, wenn etwas "besser als erwartet" verläuft. Bei ADHS wird nun dieser Botenstoff zwar gebildet, durch eine Art "Dopamin-Staubsauger", dem Dopamin-Transportersystem DAT aber sofort nach der Ausschüttung wieder in die Nervenzelle zurück transportiert, so dass das Signal nicht wirklich gut ankommt (bei einigen Klienten liegen vermutlich dann auch noch Veränderungen der Dopamin-Rezeptoren bzw. Veränderungen in Folge von langjährigem Drogenkonsum vor).
Dazu kommt, dass das Gehirn "wichtige" und "unwichtige" Informationen nicht wirklich unterscheiden kann und Ambivalenz bzw. Spannungen schlecht toleriert. Im Zweifel wird sich also bei Vorliegen der ADHS-Konstitution das Gehirn für sehr starke, schnell wechselne Reizsituationen entscheiden - eben die virtuellen Welten bevorzugen...
Rollenspielsucht / Onlinesucht und Schlafprobleme
Mit der Pubertät verändert sich bei vielen Jugendlichen auch das Schlafmuster. Vereinfacht dargestellt, wird das körpereigene Signal zum "Schlafen" (Ausschüttung des Schlafhormons Melatonin) immer später erfolgen. Wenn man aber sich erst gegen 2 oder 4 Uhr nachts "müde" fühlt, abends aber sein "Leistungshoch" hat, verschiebt sich auch der normale Tag-Nacht-Rhythmus. Zu Zeiten des "normalen" Aufstehen befinden sich viele ADHS-Jugendliche gerade in einer Tiefschlafphase. Dementsprechend schwierig ist das Aufstehen, zumal ein "nicht erholsamer Schlaf" besteht. Schule / Studium oder Ausbildung sind aber mit einem "schlafenden Gehirn" schlecht zu schaffen.
Diese schon ganz normale Veränderung des Schlaf-Wach-Rhythmus kann bei einigen ADHS-Kindern und Jugendlichen als "Schlafphasenverlagerungs-Syndrom" krankheitswertige Ausmaße annehmen. Häufig bleibt eine solche Problematik aber lange unerkannt. Wenn dann eine Psychostimulantientherapie erfolgt, werden nicht selten (auch durch ärztliche Verordnung) diese Medikamente als Weckamine missbraucht, d.h. dienen schon gar nicht mehr wirklich als ADHS-Medikamente sondern können lediglich das Einschlafen am Tag verhindern. Zurecht werden sie dann irgendwann als "nutzlos" empfunden, da sie nicht mehr wirklich ADHS-spezifische Wirkungen auf die Aufmerksamkeitssteuerung und Ablenkbarkeit zeigen können.
Zudem gelten in den Medienwelten keine normalen 24 h Abläufe, so dass die Phasen von Wach- und Schlafbewusstsein sich immer weiter verschieben. Je weniger erholsam (tief ?) aber die Schlafphasen sind, desto "flacher" wird auch das Tagesbewusstsein sein. Die Betroffenen werden überhaupt nicht mehr richtig wach bzw. aktiv und benötigen immer stärkere oder "eingeschränkte" Reize, um ihr Gehirn zu einer Tätigkeit zu bewegen. Die eigentlichen kognitiven Leistungsfähigkeiten liegen brach und das Gehirn arbeitet letztlich nur noch in einer Art "Notfallmodus".
Erzeugen Rollenspiele oder Medienüberflutung ein Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom ?
Es erscheint zunächst naheliegend, die mediale Überflutung der Kinder bereits im Kleinkindesalter für die scheinbar zunehmende Zahl von verhaltensauffälligen Kindern mit hyperaktivem oder aufmerksamkeitsgestörten Verhalten verantwortlich zu machen, wie es durch scheinbar wissenschaftliche - eigentlich aber doch eher populärwissenschaftliche - Buchpublikationen u.a. von Prof Spitzer nahegelegt wird. Zweifelos besteht ein Zusammenhang zwischen der Dauer von Fernsehen, Video, Computerspiel und ungezügelter Internetnutzung bei Kindern und dem späteren Schulerfolg bzw. dem Auftreten von psychischen Problemen und Verhaltensauffälligkeiten. Dies legen u.a. Studien von Prof. Pfeiffer nahe, der Verlaufuntersuchungen zum Einfluss von Medienverwahrlosung bei Schulkindern durchführte und einen klaren Zusammenhang zwischen dem Vorhandensein von Fernsehern bzw. Videospielkonsolen im Kinderzimmer und Bildungserfolg aufzeigte.
Es ist also zunächst einmal deutlich zu differenzieren, ob eine seit der frühesten Kindheit mit den Leitsymptomen der ADHS-Symptomatik vorliegende Problematik (häufig mit weiteren Geschwistern bzw. Familienangehörigen mit ADHS-Konstitution) vorliegt, oder aber die Problematik erst im der Adoleszenz bzw frühen Erwachsenenalter bzw. der verstärkten Mediensucht auffällig wird.
Welche Therapie greift wirklich ?
Die naheliegende Forderung, das Medienverhalten zu begrenzen bzw. Computer oder Spielkonsole abzugeben oder durch technische Begrenzungen einer Zeituhr bzw. eines USB-Sticks mit Zeitbegrenzung zu limitieren, wird nur selten den Kern des Problems erfassen und eine grundlegende Änderung erzielen. Aber sie ist natürlich eine Möglichkeit, ja wahrscheinlich erstmal Grundbedingung für Veränderung.