Gibt es einen Zusammenhang zwischen einer Bulimie (Bulimia nervosa) und ADS / ADHS (Hyperkinetisches Syndrom HKS)?
Kann man die Bulimie mit Medikamenten behandeln?
Antwort:
Dies ist zwar ganz sicher keine Standardbehandlung der Bulime (Bulimia nervosa), doch gibt es zwischenzeitlich weitere Einzelfalldarstellungen, die auf einen möglichen Zusammenhang (auch bei anderen Essstörungen bzw. der Borderline-Persönlichkeitsstörung) hindeuten. Auch aus der klinischen Erfahrung in einem Zentrum für Essstörungen mit Schwerpunkten für ADHS und Bulimie bestätigt sich nach unserer Erfahrung, dass zahlreiche Bulimie-Patientinnen eine besondere emotionale Empfindlichkeit (affektive Labilität), Probleme der Impulskontrolle bzw. Aufmerksamkeits- und Konzentrationsprobleme aufweisen. Vielfach finden sich in der Familienanamese bzw. unter Geschwistern weitere deutliche Hinweise auf ein ADHS / Hyperaktivitätssyndrom. Mögliche Hinweise können dabei sein :
- Diagnose (aber ausgebliebene Behandlung) einer "Zuckerallergie", MCD, Hyperaktivität, Wahrnehmungsstörungen, psychomotorische Auffälligkeiten
- starke Ablenkbarkeit in Gruppensituationen bzw. bei Lärm, Lichteinflüssen
- verminderte Konzentrationsfähigkeit bei monotonen Situationen (längeres Lernen, Lesen)
- Intoleranz von Langeweile
- ständige innere Unruhe und Gereiztheit
- Probleme der Alltagsorganisation mit vermeindlich leichten Dingen (Anmeldungen, Fristen, Finanzen) bzw. Haushalt / Messie-Symptomatik mit starker Unordnung
- Suchtprobleme bzw. "Selbstmedikation" mit Essen (Binge eating) mit starken Gewichtsschwankungen (Plus/Minus 10-30 kg) innerhalb kurzer Zeit. Weiterer Drogenkonsum (Alkohol, Cannabis, Kokain) bzw. Selbstverletzungen.
Auch wenn in der Grundschule vielleicht noch keine Leistungsprobleme bestanden, sind diese Schülerinnen häufig als "verträumt" oder leicht ablenkbar aufgefallen. Typisch ist, dass rigide Leistungserfüllung und Perfektionismus eine Art Kompensation für innere Strukturlosigkeit bzw. Aufmerksamkeitsproblematiken ist. Bisweilen wurde aber auch bereits eine starke motorische Unruhe (Bewegungsdrang) festgestellt, der dann im Laufe der Zeit sich eher in eine innere Unruhe umwandelt.
Typisch für die Anamnesen dieser Patientinnen ist es somit , dass sie lange Zeit über Leistung (Schule, Sport, Kreativität) eine Anerkennung und auch Strukturierung erhielten. Mit dem Wegfall dieser Anerkennung bzw. Veränderungen (z.B. Tod der Grossmutter) tritt vielfach eine Dekompensation auf. Die zunehmenden Anforderungen an Selbstorganisation und Eigenverantwortung führen dann im Verlauf zu Problemen und eine Dekompensation.
Unter der Berücksichtigung einer derartigen neurobiologischen Veranlagung (Diathese) können besonders die Aufmerksamkeit und Konzentration, aber auch Impulsivität und niedrige Frustrationstoleranz (Wutausbrüche, selbstaggressives Verhalten) u.a. durch eine Medikation (z.B. mit Methylphenidat in Kombination mit einem SSRI, ggf. Atomoxetin) und eine entsprechende Psychotherapie verändert werden. Dieses neurobiologisch-psychotherapeutische Störungsmodell und Behandlungskonzept hat sich bei ADHS und komorbiden Störungen sehr bewährt. Dabei zeigt sich, dass die Berücksichtigung einer entsprechenden ADHS-Konstitution für die Behandlung und Rückfallprophylaxe der Patientinnen mit Essstörungen eine sehr grosse Bedeutung haben kann. Weitere systematische Studien müssen zeigen, ob es sich hier um gehäufte Einzelfälle oder aber einen neuen Therapieansatz in der Behandlung von Bulimie und anderen Essstörungen handeln könnte. In einer ersten kleinen Stichprobe bei Patientinnen der Klinik Lüneburger Heide, die auf dem Essstörungskongress in Alpbach (Österreich) im Oktober 2006 vorgestellt wurde, zeigte sich, dass besonders bei Vorliegen einer sogenannten Purging-Problematik ADHS-Merkmale vermehrt vorhanden sind. Auch bei einem eher "atypischen" Verlauf mit Wechsel zwischen anorektischen und bulimischen Phasen (bzw. Wechsel zwischen Übergewicht und Untergewicht innerhalb kurzer Zeit) sollte man durchaus an eine ADHS-Veranlagung denken.