Anorektikerinnen glauben sie seien zu dick

Gechrieben von: Gunborg Palme, certified psychologist and certified psychotherapist, teacher and tutor in psychotherapy.

Erstversion: 15 Jul 2002. Letzte Änderung: 02 Aug 2007.

Frage:

 Warum glauben viele Anorektiker sie seien zu dick, obwohl sie so dünn sind ?

Antwort:

Man könnte sagen, dass wir zwei "Körper" haben: Einen, den die Anderen sehen und einen, den wir selber in unserer Vorstellung haben. Daher kann man sehr dick sein und selber der Überzeugung sein, man sei dünn und müsse nicht abnehmen. Oder wir können so wie der Teenager Karin sein, die bei einem Körpergewicht von nur 28 kg noch ihre Therapeutin anschrie, sie sei viel zu fett und müsse abnehmen.

Viele Patienten mit einer Ess-Störung glauben sie seien dick wenn sie etwas mehr essen oder wenn sie Angst spüren. Sind sie ruhig und ausgeglichen können sie sich durchaus realistischer selbst beurteilen. Ihr Hungern stellt einen dauernden Risikofaktor für erneut Fressattacken dar. Daher wissen sie, dass sie dann nicht mit dem Essen aufhören können und haben Angst die Kontrolle zu verlieren.

Schon die Angst vor dem Zunehmen kann von den Betroffenen als Dicksein erlebt werden. Viele Menschen, die als Kinder sehr schlank waren sehen sich selber auch noch als Erwachsene als dünn an – selbst wenn sie zwischenzeitlich übergewichtig geworden sin. Für adipöse Kinder gilt das Gegenteil, selbst wenn sie inzwischen eine anorektische Ess-Störung entwickelt haben.

Patienten mit einer Ess-Störung sind bei ihrer Selbsteinschätzung praktisch ausschliesslich auf ihr Körpergewicht und ihr Aussehen fixiert.

Sie glauben, dass sie nur als dünne Menschen Anforderungen des Alltags gerecht werden: Einen Partner finden, einen guten Beruf finden, Freunde haben und anerkannt zu werden.

Diese gedanklichen Vorurteile führen zu unaufhörlichen gedanklichen Auseinandersetzungen mit dem eigenen Aussehen (z.b. „Ich bin aufgedunsen“; meine Beine sind zu fett“; „ich bin eine unnütze fette Frau“; „Ich habe heute ein Kilo zugenommen und morgen muss ich völlig aufs Essen verzichten“; „Ich bin so dick, ich bin eine Schande für andere Menschen“; „Ich darf nicht mehr als 40 kg wiegen“). Mit der Zeit wird dies zu einer zwanghaften Geschichte, aus der man sich kaum noch befreien kann.

Zusätzlich mangelt es diesen Menschen an der Fähigkeit, ihr Körperbild bzw. Aussehen von einem objektiven Standpunkt einzuschätzen. Ihr Körperschema ist gestört.

Daher werden sehr viele Patientinnen mit einer Ess-Störung untergewichtig und haben eine scheinbar unglaubliche Unterernährung. Aber dabei muss man bedenken, dass eben ihr Selbstwertfühl faktisch nur noch von ihrem Vermögen abhängt, ihr Gewicht unter einer ganz strikten Kontrolle zu halten.

Derartige Opfer einer veränderten Selbstwahrnehmung sehen ihre gesammte Lebenssituation und eben auch Dinge, die gar nichts mit dem Aussehen oder Gewicht zu tun haben, nur noch im Zusammenhang mit Gedanken um den eigenen Körper und ihr Gewicht. Das verursacht dann neue Ängste und neue frustrane Versuche, ihr Gewicht zu kontrollieren.

Derartige gedankliche Teufelskreise zwischen einem unnatürlichen Körperbild und der übersteigerten Bedeutung, den die Patienten ihrem Gewicht und Aussehen geben zu durchbrechen, ist ein wesentliches Ziel der Therapie von Ess-Störungen.

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Quellen