Frage:
Adipositas Klinik / Reha : Wann ist eine stationäre Rehabilitation bei Adipositas / Übergewicht sinnvoll?Antwort:
Nicht jede Form des Übergewichtes bzw. der Adipositas ist automatisch "krank" bzw. behandlungsbedürfig. Häufig reicht sicherlich eine ambulante Ernährungsberatung bzw. Anleitungen zu mehr Bewegung und Verhaltensänderungen, um einen gesünderen Umgang mit Übergewicht und Schutz vor weiteren Folgeerkrankungen zu erzielen.
Doch gerade bei Vorliegen von weiteren psychischen Erkrankungen, die die Selbstkontrolle und Impulskontrolle beeinflussen, kann dies ambulant nicht mehr möglich sein und statt zu dauerhaften Erfolgen zu wiederholten frustrierenden Versagenserlebnissen beitragen. Dies soll exemplarisch aus der klinischen Erfahrung einer Patientin mit einer sog. Binge-Eating-Störung (Heisshungerattacken) mit deutlicher Adipositas (Grad II) und einer seit der Kindheit bestehenden Aufmerksamkeits-Defizit/Hyperaktivitätsstörung (ADS/ADHS) verdeutlicht werden, die in dem stationären Behandlungskonzept der Klinik Lüneburger Heide in Bad Bevensen betreut wurde.
Die 17 jährige Carla wurde aufgrund einer Adipositas und eines zuvor bereits ambulant diagnostizierten Hyperkinetischen Syndrom (ADS bzw. HKS) stationär zugewiesen. Zusätzlich bestanden depressive Beschwerden, da sie wiederholte Misserfolge und ein sehr geringes Selbstwertgefühl hatte. Sie leide unter starken Stimmungsschwankungen, die durch prämenstruelle Beschwerden (PMS) noch verstärkt wurden. Gerade in diesen Phasen habe sie überhaupt keine Kontrolle über ihr Essverhalten gehabt.
Im Gegensatz zu Jungen traten bei Carla eher die typischen Merkmale des "unaufmerksamen Subtyps der ADHS" auf. Hier sind Aufmerksamkeitsstörungen, Ablenkbarkeit, Ein- und Durchschlafstörungen und ein allgemeiner Antriebsmangel typisch. Vermutlich als eine Art Selbstmedikation mit Nahrungsmitteln (Cola, Schokolade etc.) traten bei ihr immer wieder abends Heisshungerattacken bzw. ein "Kontrollverlust" auf.
Carla gab in der Ernährungsanamnese unserer Ernährungstherapie an, dass sie keine Struktur in den Mahlzeiten einhalten könne und dadurch häufig unkontrolliert und zu viel esse. Sie wolle lernen mittels eines Selbstbeobachtungstagebuches die Art und Menge der gegessenen Lebensmittel selbst zu überprüfen und dabei regelmässig, aber kleinere Mahlzeiten zu essen. Zu Haus hatte sie meistens morgens nicht essen können, dafür aber Unterzuckerungen bzw. Heisshunger am späten Vormittag und Nachmittag sowie eben in den Abendstunden verspürt. Sie habe Angst, die Kontrolle zu verlieren und ungezügelt Fressattacken zu haben.
Tatsächlich haben viele Kinder mit ADS/ ADHS letztlich nie eine angemessene Wahrnehmung von Hunger und Sättigung verspürt und gelernt. Morgendliche Appetitlosigkeit, stärkere Blutzuckerschwankungen, Unfähigkeit mit Langeweile und Frustrationen umzugehen bzw wiederholte Misserfolge und Versagenserlebnisse tragen vermutlich dazu bei, dass sie ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung einer Essstörung bzw. von Heisshungerattacken im Sinne einer Binge-Eating-Störung haben. So schilderte die Mutter von Carla tatsächlich, dass ihre Tochter schon als Kleinkind nicht so wie die Geschwisterkinder gewesen sei, sich schlecht füttern liess und Schlafstörungen hatte. Später habe sie entweder überhaupt nicht oder aber grosse Mengen in sehr kurzer Zeit zu sich genommen. Ein "Stop" im Sinne eines Sättigungsgefühls habe sie scheinbar nicht gekannt.
Zunächst wurde im Rahmen der medizinischen Diagnostik eine medizinische Anamnese und Befunderhebung gemacht. Dabei führten wie eine Blutuntersuchung durch, die leicht erhöhte Blutfette (Cholesterin und Triglyceride) ergab. Zusätzlich waren die Leberwerte (Transaminasen) etwas erhöht. In einer Ultraschalluntersuchung der Leber ergaben sich Hinweise auf eine Fettleber. Ein oraler Glukosebelastungstest zum Ausschluss eines Diabetes mellitus war ebenfalls unauffällig. Ein EKG bzw. Belastung-EKG (Ergometrie) ergab keinen Befund von Krankheitswert, so daß Carla prinzipiell für sportliche Aktivitäten durchaus geeignet war.
Als einer der Zielsetzungen wurde daher eine Steigerung der sportlichen Aktivität bzw. Bewegungen im Alltag mit ihr abgesprochen und mit unserer Sporttherapeutin individuell geplant und trainiert.
Die Ernährungstherapie einer stationären Rehabilitationsklinik ist nicht auf die Verordnung einer strengen Diät begrenzt. Im Gegenteil : Neben der individuellen Ernährungsanamnese lernen die Patientinnen zur anfänglichen Gewichtsreduktion eine engerige- und fettreduzierte Mischkost mit ca 1600 kcal und 40 bis 50 g Fett (entsprechend 40-50 Fettpunkten) entsprechend der Fachgesellschaften für Ernährung zu sich zu nehmen ohne dabei Hungern zu müssen.
In einer speziellen Gruppe für Ernährungsfragen (bei uns "Mittagsgruppe" genannt") werden hierzu Fragen zur Durchführung, medizinische Folgen des Übergewichts, sportliche Aktivitäten und andere Dinge des Lebens mit Adipositas ausführlich thematisiert. Zusätzlich erfolgen zunächst betreute Mahlzeiten durch unsere Diätassistentin, so dass man ein Gefühl für die richtige Portionsgrösse und Zuteilung erhält. Die Ernährungsschulung ist somit lebensmittelorientiert und wird z.B. durch das anschauliche Pyramidenmodell der ausgewogenen Ernährung unterstützt. Die Inhalte werden durch viele praktische Übungen und eine Lehrküchenveranstalung in die Praxis umgesetzt.
In der Psychotherapie der Adipositas werden zugrunde liegende Selbstwertprobleme oder Ausgrenzungserfahrungen sowie konkrete Probleme z.B. im Elternhaus aufgegriffen. Häufig stellt man dabei fest, dass das Essen eine oder mehrere weitere Funktionen hat, die man eigentlich angemessener erreichen könnte. Dabei gilt es auch, eigene Stärken wieder zu entdecken und neue zu entwickeln. Dies kann dann auch in einem Sozialen Kompetenztraining alltagsnah ausprobiert werden. In der ADHS-Gruppe wird hierzu zusätzlich Störungswissen über ADHS, medikamentöse Behandlung und Fertigkeiten mit typischen Beeinträchtigungen im Alltag besprochen.