Interventionen
4.1 Auswahl des Interventions-Settings
Ambulante Behandlung
Die Störung kann ambulant behandelt werden, wenn eine effiziente Zusammenarbeit mit den Eltern und den betreuenden Einrichtungen (Schule, Kindergarten, Hort) erzielt werden kann.
Stationäre oder teilstationäre Behandlung ist indiziert:
- Falls symptomerhaltendes Verhalten in Familie oder Kindergarten/Schule nicht behoben werden kann
- Falls ein deswegen durchgeführter Kindergarten- oder Schulwechsel keinen Erfolg brachte
- Bei besonders ungünstigen psychosozialen Bedingungen (z.B. florider Angsterkrankung eines Elternteils)
- Bei gleichzeitigen (wenn auch nicht diagnoserelevanten) Sprachentwicklungsstörungen
- Nach 6-monatiger ambulanter Behandlung ohne entscheidende Veränderung
- Jenseits des Grundschulalters
- Wenn die Weiterentwicklung durch das reduzierte Funktionsniveau bedroht ist (z.B. bei Schulverweigerung).
4.2 Hierarchie der Behandlungsentscheidung und Beratung
Die in der Regel als multimodale Behandlung durchgeführte Intervention umfasst folgende Schritte bei Eltern und Patient:
- Aufklärung und Beratung der Eltern, des Kindes/Jugendlichen und der Erzieher bzw. Lehrer
- Ein ursächliches Trauma erfordert dessen vorrangige Therapie, nach Möglichkeit ambulant
- Weil die Störung zur Chronifizierung neigt, muss eine frühzeitige Intervention sichergestellt werden (nötigenfalls durch stationäre Behandlung)
- Grundsätzlich zielt die Intervention auf Aufrechterhaltung bzw. Ausbau normaler verbaler Kommunikation. Das Ausweichen des Kindes auf nichtsprachliche Kommunikation (Zeichensprache, Schrift u.a.) sollte wegen symptomerhaltenden Effektes in der Regel nicht unterstützt werden
- Elterntraining und Intervention in der Familie zur Angstreduktion und Stärkung der sozialen Kompetenz der Eltern
- Intervention im Kindergarten bzw. der Schule (einschließlich Kindergarten- bzw. Schulwechsel) zur Verminderung der Symptomatik in Kindergarten bzw. Schule
- Behandlung zur Erweiterung der Kommunikation, Stärkung der sozialen Kompetenz, Reduktion der sozialen Ängste oder Verminderung des oppositionellen Verhaltens
- Gruppenpsychotherapie zur Verminderung der sozialen Ängste unter Gleichaltrigen
- Der Einsatz von Pharmaka richtet sich nach:
- Schwere der Symptomatik
- Chronifizierungsgrad
- Beteiligung von Angst und sozialem Rückzug
- Die medikamentöse Einstellung (s.u.) erfordert in der Regel eine stationäre Aufnahme des Kindes
- Übungsbehandlung bei Symptomen von Sprachentwicklungsverzögerungen oder anderen Teilleistungsschwächen werden - soweit möglich - parallel durchgeführt
- Die Behandlung komorbider Störungen mit Angst, Depression oder Opposition erfolgt parallel.
4.3 Besonderheiten bei ambulanter Behandlung
Aufklärung und Beratung berücksichtigen die konkreten familiären Bedingungen und Belastungen und umfassen
- Information hinsichtlich der Symptomatik, der vermuteten Ätiologie und des vermutlichen Verlaufes sowie der Behandlungsmöglichkeiten
- Beratung hinsichtlich pädagogischer Interventionen zur Bewältigung der sozialen Problemsituationen, insbesondere durch Schaffung einer ermutigenden, angstfreien Atmosphäre
- Anfängliche Belohnung der nonverbalen Kontaktaufnahme (durch Zuwendung), dann aber zunehmend nur noch Belohnung verbaler Kontaktaufnahme
- Möglichst geringes Eingehen auf alternative Kommunikationsmittel, z.B. Schriftverkehr und Gestik
- Das Kind muss mit den Konsequenzen des Nichtsprechens konfrontiert werden und merken, dass eine ausreichende Kommunikation nur verbal möglich ist
- Angemessene Aufforderungen, sich mitzuteilen
- Minderung der sozialen Ängste durch Vermittlung von Freundschaften, Ermutigung anderer Kinder, sich dem mutistischen Kind zuzuwenden, aber nicht das Sprechen für dieses zu übernehmen.
Interventionen in der Familie zur Verminderung der Angstsymptomatik setzen die Kooperationsbereitschaft der Hauptbezugsperson voraus und umfassen:
- Die Vermittlung sozialer Kompetenzen an die Eltern, Minderung von deren sozialen Ängsten (evtl. Vermittlung einer psychotherapeutischen Unterstützung der Eltern), evtl. Hilfe bei der Integration der Familie in ihr jeweiliges Umfeld
- Die Anwendung positiver Verstärker und Verstärkerentzug bei sozialen Aktivitäten des Kindes.
- Interventionen im Kindergarten/Schule zur Verminderung der dort auftretenden Symptomatik umfassen bei gegebener Kooperation der Erzieher/Lehrer:
- Verhaltensmodifikationen unter Anwendung positiver Verstärker von sprachlichen Äußerungen durch Zuwendung und den Wegfall der positiven Verstärkung mutistischen Verhaltens
- In der Schulklasse sollte eine kleine Gruppe zugewandter Kinder dem mutistischen Kind zugeordnet werden. Es sollte eine angstfreie und ermutigende Situation für das Kind geschaffen werden, in der es nicht Außenseiter ist
- Bei Vorschulkindern/Schulkindern mit lang anhaltender Symptomatik kann aufgrund aufrechterhaltender Bedingungen in Kindergarten/Schule ein Wechsel dieser Institutionen indiziert sein, bei Vorschulkindern mit lang anhaltender Symptomatik kann Zurückstellung von der Einschulung indiziert sein.
Die Psychotherapie erfolgt parallel zu den bisher genannten Interventionsstrategien. Sie soll
- eine angstfreie, ermutigende Atmosphäre schaffen
- Angstsymptomatik und Sprechhemmung parallel bearbeiten; Lautübungen bzw. Tonbandaufzeichnungen können dabei hilfreich sein.
Pharmakotherapie ist indiziert, wenn eine deutliche Beteiligung von Angst vorliegt oder der ausschließliche Einsatz nichtmedikamentöser Behandlungsverfahren keine Besserung erzielte. Es wurden günstige Wirkungen von selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern berichtet (z.B. Fluoxetin in Tagesdosen von 20-60 mg, derzeit jedoch nur als "Heilversuch" möglich). Die Kombination mit MAO-Hemmern verbietet sich, die für diese Medikamentengruppe empfohlenen Vorsichtsmaßnahmen sind zu beachten.
- Erfahrungen mit anderen Antidepressiva sind begrenzt, also nicht zu verallgemeinern
- Kurzfristig kann die Gabe von angstreduzierenden Benzodiazepinen hilfreich sein.
Verlaufskontrollen sind notwendig bezüglich folgender Faktoren:
- Symptome des Mutismus in den verschiedenen sozialen Umfeldern (Elternhaus, Kindergarten/Schule, Freizeit, bekannten und fremden Gleichaltrigen sowie fremden Erwachsenen gegenüber)
- Angstsymptomatik in o.g. Situationen
- Emotionale Entwicklung
- Schulische Leistungen
- Familiäre Interaktion und Beziehungen
- Bei medikamentöser Behandlung bezüglich Puls, Blutdruck, Appetit, Schlaf, Veränderung des Körpergewichts u.a.
- Bei medikamentöser Behandlung ist in Zusammenarbeit mit Eltern, Erziehern/Lehrern in Abständen die Notwendigkeit einer Fortsetzung der Therapie zu überprüfen.
4.4 Besonderheiten bei teilstationärer Behandlung
Voraussetzung für eine teilstationäre Behandlung ist, dass der tägliche Weg zwischen Wohnort und Therapieeinrichtung bewältigbar ist. Die Eltern dürfen nicht eine Dolmetscherfunktion zwischen Kind und Behandlungsteam übernehmen. Zusätzlich zu dem Vorgehen bei ambulanter Behandlung sind folgende Besonderheiten zu beachten:
- Ausreichende Information aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter über das (seltene) Krankheitsbild
- Die Mitarbeiter des gesamten Teams lassen dem Kind die Wahl zu sprechen, halten aber die gesetzten Kontingenzen zu verbalen und nonverbalen Äußerungen konsequent ein
- Verstärkung sprachlicher Kommunikation
- Ggf. Einsatz von Entspannungsverfahren.
Gegen Ende der teilstationären Behandlung:
- Frühzeitige Vorbereitung des Transfers auf das natürliche soziale Umfeld durch dessen Einbeziehung
- Sicherstellung einer eventuell notwendigen ambulanten Weiterbehandlung, insbesondere hinsichtlich Psychotherapie und Weiterführung der medikamentösen Behandlung.
4.5 Besonderheiten bei stationärer Behandlung
Eine stationäre Behandlung ist dann indiziert, wenn die Voraussetzungen für eine teilstationäre Behandlung nicht erfüllt sind. Es gelten die gleichen Besonderheiten wie für teilstationäre Behandlung. Vor Abschluss einer stationären Behandlung ist die Wiedereingliederung in Kindergarten/Schule evtl. mit übergangsweiser teilstationärer Behandlung sorgfältig zu planen.
4.6 Jugendhilfe- und Rehabilitationsmaßnahmen
Sozialpädagogische Familienhilfe kann ambulante Behandlung co-therapeutisch im Sinne von Hometreatment unterstützen.
Sofern fortdauernde Belastung eines Kindes in der Familie besteht, muss zur Sicherung des Therapieerfolges eine außerfamiliäre Betreuung erfolgen; ggf. kann dafür teilstationäre Betreuung genügen.
Eventuelle schulische Leistungsdefizite müssen aufgearbeitet werden. Sekundäre psychiatrische Störungen bedürfen der Behandlung. Sofern die soziale Isolierung einer Familie oder soziale Ängste nicht gemindert werden können, ist Weiterbetreuung der Familie unter diesem Gesichtspunkt indiziert.
4.7 Entbehrliche Therapiemaßnahmen
Der ausschließliche Einsatz psychodynamischer Verfahren sollte mit Zurückhaltung betrachtet werden. Non-direktive Spieltherapie ist ebenfalls mit Zurückhaltung zu betrachten. Ausschließlich logopädische/sprachtherapeutische Behandlung ist kontraindiziert.
Generell ist zu allen unter 4. beschriebenen therapeutischen Schritten bzw. Strategien festzuhalten, dass die wissenschaftliche Bewertung ihrer Wirksamkeit bislang weitgehend auf zusammengetragenem Erfahrungswissen respektierter Experten beruht (V).