von
Dr. M.Ryffel, Kinderarzt FMH,
Herbst 1996, 3053 Münchenbuchsee
Neben dem bekannten "Zappelphilipp", dh dem typ. ADS- Kind mit gestörter Selbststeuerung,
Impulsivität und motorischer Hyperaktivität, tritt die Aufmerksamkeitsdefizitstörung auch bei Kindern auf, die nicht vorwiegend durch ihr Verhalten auffallen, dh die nicht "stören", so weniger auffallen und entsprechend häufig auch nicht diagnostiziert werden.
Diese Form des ADS zeigt sich sowohl bei Buben wie auch vor allem bei Mädchen: Es sind brave, manchmal zu brave, ruhige und stille Kinder, die in den Tag träumen und ihre Gedanken häufig anderswo haben G. Falardeau, ein kanadischer Kinderarzt, spricht von den " enfants lunatiques "
Typischerweise kommt es nicht selten zu einem "unerklärlichen Versagen" in der Schule, das vorhandene Potential wird nicht ausgeschöpft und die Kinder werden zunehmend frustriert.. Diese Kinder haben vor allem Schwierigkeiten, ihre Aufmerksamkeit auf etwas (von aussen) Verlangtes zu fokussieren und sich damit während längerer Zeit zu beschäftigen. Wenn sie jedoch einmal bei einer Sache sind oder sie etwas interessiert, ist ihre Aufmerksamkeit häufig so in Anspruch genommen, dass sie grosse Schwierigkeiten zeigen, sich innert kurzer Zeit etwas Neuem zuzuwenden. Das Umschalten von einer Sache zur anderen fällt so schwer.
Neuere Untersuchungen in der Hirnforschung haben gezeigt, dass auch hier Funktionsstörungen im Bereich der Informationsverarbeitung verschiedener Hirnregionen als Ursache anzusehen sind.
Hauptsymptome: Grosse Schwierigkeiten, sich auf etwas nicht Greifbares, dh Abstraktes zu konzentrieren . Dinge, die gesehen werden oder das Kind interessieren, werden gut wahrgenommen. Für andere Sachen bestehen ausser- ordentlich grosse (unbegreifliche) Schwierigkeiten.
Dies zeigt sich zum Beispiel beim Einmaleins: Solange das Kind die Rechnungen mit den Fingern abzählen, dh "sehen" kann, geht es gut, sobald die Zahlen 10 übersteigen, die Rechnung also nicht mehr "visualisiert" werden kann, treten unerklärlich grosse Schwierigkeiten auf. Die Rechnungen sind abstrakt geworden, können so nicht mehr nachvollzogen, dh "gesehen" werden... Auffallende Gedächtnisschwierigkeiten, dh grosse Mühe, etwas auswendig zu lernen. Dinge, die nicht die Aufmerksamkeit erregen, brauchen viel mehr Aufwand um abge- speichert, dh automatisiert werden zu können. Es bestehen grosse Schwierigkeiten beim Übergang vom Kurzzeit- ins Langzeitgedächtnis.
Dies zeigt sich besonders in der akustischen Merk- und Differenzierungsfähigkeit. Auch diese Gedächtnisprobleme treten vorwiegend bei abstrakten Leistungen wie zB beim Lernen von Vokabeln und Rechtschreiberegeln auf.
Überaus langsames Arbeitstempo: Sie brauchen länger um zu beginnen, zu begreifen und etwas umzusetzen. Häufig sind auch ihre Bewegungen langsamer. Es scheint, dass die Koordination zwischen einzelnen Handlungsschritten deutlich langsamer vor sich geht. Dadurch erscheinen diese Kinder häufig als "faul" oder einfach "dumm", obwohl sie eine völlig normale oder gar überdurch- schnittliche Intelligenz aufweisen. Durch diese Schwierigkeiten verlieren die betroffenen Kinder mit der Zeit Ihr Selbstvertrauen, die vielen Misserfolge führen zu einem verminderten Selbstwertgefühl (Ich kann es ja doch nicht", "ich bin ein Versager"). Häufig sind diese Kinder auch nicht sonderlich sportlich und können so dort nicht kompensieren. Sie ziehen sich zunehmend zurück, können depressiv oder gar suizidal werden.
Zusätzliche Teilleistungsstörungen sind häufig, vor allem im Rechnen (Dyskalkulie ) Motorische Schwierigkeiten, vorwiegend in der Feinmotorik, höheren Gleichgewichtsreaktionen und in der Koordination der Bewegungen sind nicht selten. Hingegen sind häufig Phantasie und Kreativität überraschend gut ausgebildet und lassen die entstandenen Schulschwierigkeiten noch unerklärlicher erscheinen.
Allerdings muss die vorhandene Kreativität häufig erst wieder entdeckt werden, vor allem dann, wenn sich das Kind in sein "Schneckenhaus" verkrochen hat. Wir nehmen an, dass ca. 1-2 % aller Schulkinder diese Probleme in einem Ausmass aufweisen, dass ernsthafte Probleme auftreten.
Die Prognose erscheint in der Regel besser als bei hyperaktiven ADS-Patienten, da ja keine starken Verhaltensprobleme bestehen. Allerdings kann das häufig nur mangelhaft ausgebildete Selbstwertgefühl für später sehr ungünstige Konsequenzen zeigen. Behandlungshinweise Es geht dabei darum, die grossen Lern- und Schulschwierigkeiten zu verbessern und möglichst ein normales Selbstwertgefühl des Kindes zu erreichen! Es hat sich gezeigt, dass auch hier eine Behandlung mit Stimulantien sehr hilfreich sein kann, da es sich ja ursächlich ebenfalls um eine hirnbiologische Störung im Bereich des Neurotransmittersysteme handelt.
Erfahrungsgemäss ist die Dosierung in der Regel niedriger als beim hyperaktiven Kind und es scheint, dass es manchmal ausreicht, während einigen Monaten medikamentös die "Batterien aufzuladen" Ob eine kontinuierliche Behandlung während Jahren bei diesen Kindern ebenfalls nötig ist, ist noch weitgehend ungeklärt.
Neben einer allfällig medikamentösen Unterstützung ist es wichtig, das Problem zu erkennen und die vorhandenen Schwierigkeiten durch pädagogische Hilfestellungen zu lösen zu versuchen: Das Kind so zu akzeptieren wie es ist, heisst u.a. auch, ihm entgegenzukommen, d.h. sein langsameres Arbeitstempo nicht als Faulheit zu bezeichnen, gewisse Aufgaben oder neue Stoffgebiete in kleinere Abschnitte aufzuteilen und wenn möglich ein individuelles Lernprogramm aufzustellen, was in einigen Fällen wahrscheinlich nur in privaten Schulen möglich ist.
Gezielte Übungen zur Verbesserung der Konzentration können versucht, die wahrscheinlich innere Unruhe dieser Kinder kann häufig durch frei gewählte Musik mittels Walkman (auch in der Schule !) über- raschenderweise gut verbessert werden.
Wichtig ist die Hebung des Selbstwertgefühls, dh Vermitteln von Erfolgserlebnissen, Lob des Einsatzes und nicht so sehr des Resultates . Eine "Wenn man nur will, kann man es" - Haltung soll vermieden werden. Nicht vor allem auf den Schwierigkeiten insistieren, sondern die besonderen Fähigkeiten fördern, ist entscheidend !
Kombinationsformen des vorwiegend hyperaktiven und des "ruhigen" ADS- Kindes sind sehr häufig !
[1] Deutsche Zusammenfassung des Kapitels "Le Lunatique", Seken 119 ff aus dem Buch G. Falardeau : Les enfants hyperactifs et lunatiques, Le Jour Verlag, Transat SA Genf.
4. Januar 2001, E. Stoll email: estoll@dplanet.ch