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Leitlinien der Dt. Ges. f. Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie
AWMF-Leitlinien-Register | Nr. 017/064
| Entwicklungsstufe: | 2
| nicht aktualisiert
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Tinnitus
Zusätzlich zu dieser Leitlinie besteht bereits ein Algorithmus "Ohrgeräusche" der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie (Ganzer u. Arnold, 1996). Dieser Algorithmus wurde in dieser Leitlinie berücksichtigt.
- Einführung
Diagnostik und Therapie von Ohrgeräuschen sind grundsätzlich durch das Fehlen fundierter pathophysiologischer Erkenntnisse und den Mangel an tinnitusspezifischen Therapieformen gekennzeichnet. Angesichts der großen Zahl betroffener Patienten mit erheblichem Leidensdruck muß diese Situation als unbefriedigend bezeichnet werden. Eine Vielzahl therapeutischer Vorschläge mit unterschiedlicher, zumeist hypothetischer Begründung wurde in den letzten Jahren angegeben und eingesetzt. Dabei läßt sich eine weit verbreitete Polypragmasie erkennen, deren wissenschaftliche Fundierung zum Großteil fehlt. So werden immer wieder von einzelnen Autoren erstaunliche Heilungserfolge berichtet, die von anderen Untersuchern nicht reproduziert werden können. Dadurch sind sowohl behandelnder Arzt als auch Patient mit einer Vielzahl, z. T. widersprüchlicher Aussagen konforntiert, die ein geplantes und rationales Vorgehen kaum ermöglichen. Der Patient erleidet durch die Vielzahl der angewandten Behandlungsverfahren mit nicht überprüfter Wirksamkeit möglicherweise zusätzliche iatrogene Schäden, die sein Leiden noch verstärken und eine wirksame Behandlung eventuell sogar verhindern.
Eine wesentliche Ursache liegt in der fehlenden Standardisierung der verwendeten diagnostischen und therapeutischen Verfahren einschließlich der zur Beurteilung und Messung herangezogenen Parameter. Nur bei einheitlicher Verwendung derselben Kriterien lassen sich Behandlungsdaten miteinander vergleichen. Diese Standards sind Voraussetzung für die Durchführung dringend gebotener, klinisch kontrollierter Studien zur Effektivitätskontrolle heutiger und zukünftiger Therapieverfahren.
Die hier vorgestellte Leitlinie soll diesem Zweck dienen und dabei den heutigen Stand der Diagnostik und des therapeutischen Konzeptes für Patienten mit akutem, subakutem und chronischem Tinnitus aufzeigen. Weitere Modifikationen werden in regelmäßigen Abständen zur Anpassung an erreichte Fortschritte erforderlich sein.
- Klassifikation
Eine Einteilung kann nach dem Entstehungsmechanismus, dem Ort der Verursachung, dem Zeitverlauf und den Auswirkungen des Ohrgeräusches geschehen. Klassifikationen sind dann sinnvoll, wenn sie Einfluß auf Diagnostik und Therapie haben. Folgende Definitionen sollten dabei Verwendung finden:
- a) Entstehungsmechanismus: objektiv - subjektiv
- Objektiv: Es existiert eine körpereigene physikalische Schallquelle in de Nähe des Ohres, deren Schallaussendungen gehört werden (z. B. gefäß- oder muskelbedingte Schallgeräusche).
- Subjektiv: Es liegt eine fehlerhafte Informationsbildung im auditorischen System ohne Einwirkung eines akustischen Reizes vor.
- b) Ort der Entstehung: äußeres Ohr - Mittelohr - Innenohr - Hörnerv - zentrales auditorisches System
- c) Zeitverlauf: akut - subakut - chornisch
- Akut: besteht weniger als 3 Monate
- Subakut: besteht zwischen 3 Monaten und 1 Jahr
- Chronisch: besteht länger als 1 Jahr
- d) Sekundäre Symptomatik: kompensiert -dekompensiert
- Kompensiert: Der Patient registriert das Ohrgeräusch, kann jedoch so damit umgehen, daß zusätzliche Symptome nicht auftreten. Es besteht kein oder nur gereinger Leidensdruck. Die Lebensqualtität ist nicht wesentlich beeinträchtigt.
- Dekompensiert: Das Ohrgeräusch hat massive Auswirkungen auf sämtliche Lebensbereiche und führt zur Entwicklung einer Sekundärsymptomatik (Angstzustände, Schlafstörungen, Konzentrationsstörungen, Depressionen). Es besteht hoher Leidensdruck. Die Lebensqualität ist wesentlich beeinträchtigt.
Depressionen und andere psychische Störungen können andererseits die Ursache von Ohrgeräuschen sein.
Eine weitergehende Abstufung des Schweregrades berücksichtigt die Auswirkungen des Ohrgeräusches im beruflichen und privaten Bereich. Sie kann u. a. für die Ableitung der erforderlichen Therapieformen im Einzelfall nützlich sein (Biesinger et al., 1998).
- Grad 1: Kompensiertes Ohrgeräusch, kein Leidensdruck.
- Grad 2: Der Tinnitus tritt hauptsächlich in Stille in Erscheinung und wirkt störend bei Streß und psychisch-physischen Belastungen.
- Grad 3: Der Tinnitus führt zu einer dauernden Beeinträchtigung im privaten und beruflichen Bereich. Es treten Störungen im emotialen, kognitiven und körperlichen Bereich auf.
- Grad 4: Der Tinnitus führt zur völligen Dekompensation im privaten Bereich.
- Diagnostik
Tinnitus stellt ein Symptom unterschiedlicher Ursache dar. Neben otogenen Ursachen müssen zusätzliche, außerhalb des Ohres gelegene Auslöser und Verstärkungsfaktoren individuell ermittelt oder ausgeschlossen werden. Die Diagnostik ist dabei Grundlage für die Beratung und ggf. Therapie des Patienten. Im Hinblick auf das auch unter Kostengesichtspunkten Mögliche und medizinisch Notwendige muß dabei zwischen der notwendigen sowie der im Einzelfall nützlich Diagnostik unterschieden werden. Dabei sollte nicht in Form eines bei jedem Patienten starr abzuarbeitenden Schemas vorgegangen, sondern ein vorwiegend durch Anamnese und Basisdiagnostik bestimmter individueller Zugang gewählt werden. In vielen Bereichen ist die Diagnostik zur Abklärung der Schwerhörigkeit.
- 3.1 Anamnese
Sie ist Grundlage der Diagnostik und ermöglicht in Form eines Entscheidungsbaues die Veranlassung der im Einzelfall nützlichen Diagnostik. Gleichzeitig erlaubt sie eine Einschätzung des Schwere- und Belästigungsgrades sowie der Sekundärsymptomatik. Dabei kann sowohl eine ursachenorientierte als auch eine schweregradadaptierte Diagnostik festgelegt werden.
Folgende Fragen sind relevant:
- Wie lange besteht das Ohrgeräusch (akut - subakut - chronisch)?
- Kann das Ohrgeräusch durch Umweltgeräusche maskiert werden?
- Besteht zusätzlich eine Hörminderung?
- Ist das Ohrgeräusch zusammen mit der Hörminderung aufgetreten?
- Wird das Ohrgeräusch durch Anspannung, Aufregung oder psychische Belastung verstärkt?
- Wird das Ohrgeräusch durch körperliche Aktivitäten beeinflußt?
- Ändert sich das Ohrgeräusch bei bestimmten Kopfhaltungen?
- Wird das Ohrgeräusch durch bestimmte Speisen oder Getränke verändert?
- Bestehen zusätzliche Krankenheiten (Herz-Kreislauf, Stoffwechsel, Halswirbelsäule, gnathologisches System)?
- Medikamenteneinnahme
- Ist das Ohrgeräusch belastend oder quälend?
- Verursacht das Ohrgeräusch Konzentrationsstörungen?
- Treten Schlafstörungen auf?
- a) Einschlafstörungen
- b) Durchschlafstörungen
- Wird die Lebensqualität durch das Ohrgeräusch entscheidend beeinflußt?
- 3.2 Notwendige Diagnostik
- hno-ärztliche Untersuchung einschließlich Trommelfellmikroskopie, Nasopharyngoskopie, Tubendurchgängigkeit
- Auskultation der A. carotis sowie Abhören des Gehörganges bei pulssynchronem Ohrgeräusch
- Tonaudiometrie
- Unbehaglichkeitsschwelle
- Bestimmung der Tinnituslautheit mit Schmalbandrauschen und der Frequenzcharakteristik mit Sinusstörungen
- Bestimmung des minimalen und Maskierungslevels mit weißem Rauschen und der Maskierungskurven nach Feldmann mit Sinusstörungen und Schmalbandrauschen
- Tympanometrie und Stapediusreflexe einschließlich Aufzeichnung möglicher atem- oder pulssynchroner Veränderungen
- OAE
- Hirnstammaudiometrie (BERA)
- Vestibulationsprüfung einschließlich kalorischer Prüfung
- Halswirbelsäulendiagnostik, insbesondere auf funktionelle Störungen
- Orientierende Untersuchung des Gebisses und des Kauapparates
Zur Erfassung des Schweregrades sowie möglicher Sekundärsymptome eignet sich auch ein standardisiertes Kurzinterview (Goebel). die quantitative Erfassung der subjektiven Lautheit und des Belästigungsgrades ist durch visuelle Analogskalen möglich, die zur Verlaufs- und Therapiekontrolle eingesetzt werden können (Wilhelm u. Mitarb., 1995, Anhang 1).
Bei allen audiometrischen Untersuchungsmethoden, die hohe Schallpegel verwenden (Impedanzaudiometrie, Hirnstammaudiometrie, Sprachaudiometrie, überschwellige Hörtests) muß ein mindestens einwöchiger Abstand zwischen dem Auftreten des Tinnitus und der Durchführung der Untersuchung wegen der Gefahr eines zusätzlichen Lärmschadens des Innenohres liegen.
- 3.3 Im Einzelfall nützlich
Sie ist individuell nach den Ergebnissen von Anamnese und Basisdiagnostik festzulegen. Die Diagnostik muß dabei medizinisch sinnvoll und ökonomisch vertretbar sein und wesentlich zur ätiologischen Abklärung, Beratung und Therapie beitragen.
- Gnathologische Untersuchung: Bei Hinweis auf Störungen im Kauapparat.
- Dopplersonographie der hirnversorgenden Arterien (extra- und transkraniell): Bei Hinweis auf objektive Ohrgeräusche oder Zeichen einer zerebralen Durchblutungsstörung, insbesondere bei Kopfdrehen.
- Hochauflösendes Computertomogramm der Felsenbeine: Zum Nachweis von ossären Destruktionen, entzündlichen Vorgängen und Mißbildungen des Felsenbeines.
- Kernspintomographie des Schädels: Bei retrocochleärem Scaäden in der BERA oder einseitiger Taubheit, Hinweise auf zentral-auditorisches Geschehen oder neurologische Erkrankung.
- Digitale Subtraktionsangiographie des cerebrovaskulären Systems: bei pulssynchronem Tinnitus.
- Labordiagnostik:
- a) Infektionsserologie: Borreliose, HIV, Lues
- b) Immunpathologie: Immunglobuline, Rheumafaktoren, gewebsspezifische Antikörper
- c) Liquordiagnostik: Bei Hinweis auf entzündlichen Prozeß des ZNS
- d) Stoffwechsel: Blutzucker, Blutfette, Leberenzyme, Schilddrüsenhormone
- e) Blutbild
- Internistische Untersuchung:
Bei Verdacht auf Erkrankung im Bereich von Herz, Kreislauf, Stoffwechsel oder rheumatischer Erkrankung.
- Psychologische Diagnostik:
Sinnvoll bei Bejahung der Frage "Ist das Ohrgeräusch quälend?" oder "Ist das Ohrgeräusch tagsüber entnervend und immer da?" (Nicht sinnvoll, wenn der Tinnitus tagsüber kaum bemerkt bzw. nur in Stille wahrgenommen wird und der Belästigungsgrad gering ist.)
Zur Diagnostik der Begleitstörung bei dekompensiertem, chronischem Tinnitus ist eine psychologische Diagnostik entscheidend. Dieses soll sich an den aktuellen Beschwerden des Patienten im Zusammenhang mit seinem Tinnitus orientieren, ist also selten tiefenpsychologisch. Diese psychologische Diagnostik sollte von einer in der Tinnitusdiagnostik und Therapie erfahrenen Psychologin durchgeführt werden. Aus dieser Diagnostik kann im Einzelfall ein psychologischer bzw. psychotherapeutischer Therapieansatz resultieren.
- Therapie
Die Behandlung orientiert sich einerseits an der Ursache, andererseits am Zeitverlauf und dem Schweregrad. Bei objektiven Ohrgeräuschen steht eindeutig die exakte Ermittlung und ggf. Ausschaltung der körpereigenen physikalischen Schallquelle im Vordergrund.
Bei subjektiven Ohrgeräuschen sind dagegen Zeitverlauf und Schweregrad für die Art der einzuschlagenden Therapie entscheidend. Hier muß nach akutem, subakutem und chronischem Tinnitus unterschieden werden. Richtet sich die Behandlung bei akutem Tinnitus im wesentlichen auf die Möglichkeit einer vollständigen Beseitigung des Tinnitus oder einer deutlichen Minderung seiner Lautheit, ist bei chronischem Tinnitus dieses Ziel nur selten zu erreichen. Es sollte dem Patienten auch in der Beratung deutlich gemacht werden. Hier steht die Ermittlung tinnitusverstärkender Ursachen und deren therapeutische Handbarkeit sowie die langfristige Gewöhnung des Patienten an seinen Tinnitus im Vordergrund. Der Patient benötigt Techniken, um mit seinem Ohrgeräusch umgehen zu können.
Grundlage jeder Therapie ist dabei die auf die Diagnostik gestützte Beratung und Aufklärung des Patienten (Tinnitus-Counselling). Bei akutem Tinnitus ist ein schneller Behandlungsbeginn entscheidend, deswegen kann die Diagnostik z. T. nur begleitend zur bereits begonnenen Behandlung durchgeführt werden.
- 4.1 Akuter Tinnitus
Die Behandlung sollte möglichst umgehend einsetzten, d. h. innerhalb der ersten Tage nach Auftreten des Ereignisses oder nach Aufsuchen des Artzes.
Folgende Verfahren sind dabei gebräuchlich und können u. U. kombiniert werden:
- Rheologische Infusionsbehandlung mit Plasmaexpander und Vasodilatator (z. B. niedermolekulare Dextrane, Hydroxyethylstärke, Procain, Pentoxifyllin. Dauer bis zu 10 Tagen.
- Procaintherapie in aufsteigender Dosierung.
- Kortisontherapie: Beginn mit hoher Dosierung, z. B. 500 mg Cortison pro Tag für 3 Tage, rasch fallende Dosis. Gessamtdauer 10 Tage.
- Manualmedizinische Untersuchung und Behandlung bei zervikogenem Tinnitus.
Die genannten Behandlungsverfahren können sowohl simultan als auch nacheinander eingesetzt werden, wenn die Primärtherapie nicht zu einer Beseitigung des Tinnitus oder einer deutlichen Verminderung seiner Lautheit geführt hat.
Die hyperbare Sauerstofftherapie befindet sich noch im Erprobungsstadium. Sie kann im Einzelfall als Behandlungsversuch durchgeführt werden, wenn die vorgenannten Verfahren zu keiner Besserung geführt haben (s. Anhang 2).
- 4.2 Subakuter Tinnitus
In dieser Phase stehen neben der Durchführung der oben genannten Akuttherapie mit der Zielsetzung, das Ohrgeräusch zu beseitigen oder deutlich zu bessern, vor allem die aus der Ursachenabklärung herangeleiteten Ansatzmöglichkeiten einer Begleittherapie im Vordergrund. Da der Patient nicht weiß, wie er mit dem Ohrgeräusch umgehen kann und sich zusätzlich Ängste über mögliche weitere Gesundheitsstörungen aufbauen, steht die auf die sorgfältige Diagnostik gegründete Beratung und damit die umfassende Betreuung des Patienten durch den Hals-Nasen-Ohrenarzt im Vordergrund (Tinnitus-Counselling). Es müssen Wege aufgezeigt werden, wie der Patient im Alltag mit seinem Ohrgeräusch besser umgehen kann. Dabei können psychotherapeutische Verfahren im weiteren Sinne, wie z. B. Entspannungsverfahren (Biofeedback, autogenes Training, progressive Muskelrelaxation nach Jakobsen) eingesetzt werden.
Weiterhin sinnvoll sind folgende Maßnahmen:
- Anpassung von Hörgeräten:
Bei nachgewiesenem, auch einseitigem Hörverlust.
- Anpassung von Tinnitusmaskern:
Bei nachgewiesener Maskierbarkeit, ggf. im Zusammenhang mit einer Retraining-Therapie.
- Lidocain-Test: Nachweis der Wirksamkeit membranwirksamer Medikamente mit anschließendem Behandlungsversuch mit Tocainid.
- Aufklärung über Lebensführung, z. B. Meiden von Lärmexposition oder tinnitusverstärkenden Situationen.
- Manualmedizinische oder krankengymnastische Behandlung der Halswirbelsäule.
- Kieferorthopädische Therapie: Pathologischer Befund am Kauapparat und Kiefer.
- Alternative Heilmethoden: Versuch mit bewährten Verfahren, wie z. B. Neuraltherapie, Akupunktur jedoch nur unter vorhergehender kritischer Aufklärung über die geringen Therapiechancen. Wichtig ist für den Patienten, um selbst die Schwierigkeit einer kausalen Behandlung einerseits zu erkennen, andererseits die Notwendigkeit zu erfassen, sich selbst mit den vorhandenen Ohrgeräusch auseinanderzusetzen und Bewältigungsstrategien zu entwickeln.
4.3 Chronischer Tinnitus
Bzgl. der Behandlungsnotwendigkeit muß zwischen dem kompensierten und dem dekompensierten Tinnitus unterschieden werden (s. Abschnitt 2, Klassifikation).
4.3.1 Kompensierter Tinnitus
Auf der Grundlage der durchgeführten umfassenden ätiologischen Diagnostik kann der Patient adäquat hinsichtlich seines weiteren Umgangs mit dem Ohrgeräusch beraten werden (Tinnitus-Counselling: weg von der Behandlung, hin zu der Betreuung). Die Aussage, therapeutischc sei nichts zu machen, ist sicherlich falsch und wird den Patienten resignieren oder zu alternativen, vielfach dubiosen Behandlungsverfahren greifen lassen, anstatt ihn zu einem kritischen Umgang mit seinem Ohrgeräusch zu bringen. Entscheidend ist daher die Beratung des Patienten durch seinen betreuenden Arzt hinsichtlich der Prognose, tinnitusverstärkenden Faktoren oder das Ohr schädigenden Einflüssen. Leitlinie der Betreuung soll dabei sein, daß eine allmähliche Gewöhnung an das Ohrgeräusch und damit die Integration in den täglichen Lebensablaf eintreten werden. Zielpunkt ist also die Akzeptanz des Ohrgeräusches durch den Patienten. Wichtig ist für den Patienten zu wissen, daß er jederzeit Beratung durch seinen betreuenden Arzt erhalten kann. Dabei ist dessen Rolle auch in einer Beratung hinsichtlich alternativer oder neuer Behandlungsmethoden zu sehen. Dies muß auf der Grundlage des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes erfolgen. Es sollte möglichst kein Medikament rezeptiert werden.
4.3.2 Dekompensierter, chronisch komplexer Tinnitus
Auch hier stehen Beratung und Betreuung im Vordergrund. Es gilt, den Patienten zu führen und ihn mit dem Ohrgeräusch aufgrund der selbst empfundenen therapeutischen Ohnmacht nicht alleine zu lassen. Zielsetzung muß es sein, den Patienten auf die Notwendigkeit einzustimmen und in die Lage zu versetzen, daß er selbst sich um die Akzeptanz seines Ohrgeräusches bemühen muß (Jetzt sind Sie gefordert. Setzen Sie alles daran, um an der Gewöhnung und Akzeptanz zu arbeiten.).
Im Einzelfall ist dabei eine auf die psychologische Diagnostik gestützte Psychotherapie unter Verwendung unterschiedlicher Methoden und Strategien sinnvoll. Folgende Ansatzpunkte können dabei über die bei kompensiertem, chronischem Tinnitus angewandten Methoden hinaus sinnvoll sein:
- Anpassung eines Hörgerätes und Tinnitusmaskers
- Habituationstraining in Form von Tinnitusbewältigungsgruppen und Entspannungsverfahren
- Retraining-Therapie
- Einschlafhilfen
- Angstbewältigung mit medikamentöser Unterstützung (z. B. Atosil oder Tranquilizer)
- Depressionsbewältigung mit medikamentöser Unterstützung (z. B. Aponal 10 bis 50 mg, 3 x 1)
- Monotherapieverfahren wie autogenes Training nur als Integration in multimodale, psychologisch ausgerichtete Behandlungskonzepte
Bei vielen Patienten wiend eine umfassende strukturierte und standardisierte Therapie erforderlich sein. Diese läßt sich sowohl ambulant als auch stationär in entsprechend qualifizierten Einrichtungen erreichen. Dabei können Einzel- und Gruppentherapie miteinander kombiniert werden. Die individuell ausgeprägten Sekundärsymptome lassen sich so gezielt angehen. Abzulehnen sind polypragmatische Tinnituskuren ohne nachgewiesene Wirksamkeit. Eine stationäre Therapie ist um so eher erforderlich, je höher der Schweregrad des Ohrgeräusches ist (s. Abschnitt 2). Ziel der Therapie ist die Reduktion des Leidensdruckes verbunden mit einer beruflichen und/oder sozialen Wiedereingliederung. Das Ohrgeräusch soll von einem dekompensierten in einen kompensierten Zustand überführt werden.
Eine zusätzliche Beratungsfunktion übernehmen Selbsthilfegruppen und die Deutsche Tinnitus-Liga. Der Informationsaustausch zwischen den Betroffenen steht dabei im Vordergrund.
Anhang 1
Visuelle Analogskala zur Erfassung der subjektiv empfundenen Lautheit und des Belästigungsgrades durch das Ohrgeräusch.
Anhang 2
Therapieforschung
Die therapeutische Situation kann zum jetzigen Zeitpunkt nur als unbefriedigend bezeichnet werden.
Die nachfolgenden Vorschläge sollen dazu beitragen, Therapiemethoden hinsichtlich Wirksamkeit zu überprüfen und damit einen Beitrag zur Verbesserung der Therapiesituation zu leisten. Sie sind als Anhang nicht Bestandteil der Leitlinie.
Folgende Forschungsansätze sind dabei parallel zu verfolgen:
- Experimentelle und klinische Ursachenforschung
- Aufdeckung der pathophysiologischen Vorgänge
- Entwicklung objektiver diagnostischer Verfahren zum Nachweis des subjektiven Tinnitus einschließlich der im Einzelfall zugrundeliegenden pathophysiologischen Vorgänge
- Entwicklung daran orientierter Therapieverfahren (Oto-Neuro-Pharmakologie, apparative Therapie, Psychotherapie)
Parallel zu diesen Forschungsansätzen (von der Ursache zur Behandlung) steht zum jetzigen Zeitpunkt die empirische Therapieforschung im Vordergrund. Dabei müssen bereits jetzt breit angewandte Therapieverfahren genauso wie neu vorgeschlagene Therapiemodalitäten nach den Kriterien klinisch kontrollierter Studien hinsichtlich ihrer Wirksamkeit untersucht werden. Dies kann nur in Form von sorgfältig konzipierten, plazebokontrollierten Studien erfolgen, die sich an den oben dargestellten Prinzipien von Klassifikation, Diagnostik und Therapie orientieren müssen.
Folgende Punkte sind dabei zu beachten:
- Klare Stichprobencharakteristik durch valide Dokumentation von Anamnsese, Krankheitsbild und Tinnitusursache
- Erfassung der Motivation zur Studienteilnahme
- Anwendung geeigneter, validierter Meßinstrumente zur Diagnostik und Erfassung des therapeutischen Effektes
- Standardisierte Basis- und spezielle Diagnostik
- Standardisiertes Tinnitus-Interview
- Standardisiertes Tinnitus-Tagebuch
- Standardiserter Tinnitus-Fragebogen
- Visuelle Analogskalen
Die Studien sollen multizentrisch durchgeführt werden. Dabei ist auf Unabhängigkeit zwischen Therapeut und Untersucher zu achten. Ein Wirksamkeitsnachweis kann dann angenommen werden, wenn folgende Punkte erfüllt sind:
- Multizentrische Studie
- Vergleich mit einem anderen, gesichert wirksamen Therapieverfahren oder mit Plazeboverfahren
- Ausreichende Gruppengröße mit gesicherter statistischer Power. Bei Einzelfallstudien gilt nur der intraindividuelle Vergleich im Cross-Over-Verfahren anhand eines zuvor festgelegten Versuchsplanes
Die hierbei dargestellten Kriterien werden nur von wenigen vorgelegten Studien erfüllt (z. B. VON WEDEL et al. (1996) zum Thema "Gingko Lasertherapie", s. a. LENARZ 1989 u. 1998 zum Wirksamkeitsnachweis von membranwirksamen Medikamenten). Im Hinblick auf die Vielzahl von therapeutischen Vorschlägen kann der einzig sinnvolle Weg in einer zentralen Koordination der durchzuführenden Forschungsaktivitäten liegen. Hierzu bietet sich ein wissenschaftlicher Beirat bei der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie, der Deutschen Tinnitus-Liga oder die Gründung einer Gesellschaft für Tinnitusforschung an. Weiterhin müssen die gesetzlichen Bestimmungen nach dem Arzneimittelgesetz, dem Medizinproduktegesetz sowie die Bestimmungen nach GCP beachtet und erfüllt werden.
Hinweis zur Hyperbaren Sauerstofftherapie (HBO-Therapie): Vom Bundesausschuß Ärzte und Krankenkassen wird diese Therapie zur Zeit nicht zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung zu verordnen eingestuft, da bisher ein Wirksamkeitsnachweis wissenschaftlich nicht erbracht werden konnte.
Literatur
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Strategien in der ambulanten Behandlung des Tinnitus. HNO 2 (1998), 157 - 169
- Feldmann, H. (Hrsg.):
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- Ganzer, U.; Arnold, W.:
Ohrgeräusche, Leitlinien/Algorithmen der Dt. Ges. f. Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie, im Auftrag des Präsidiums entworfen und bearbeitet (Konsens im Delphi-Verfahren). HNO Mitteilungen 47 (1997) 3, 3
- Goebel, G.:
Verhaltensmedizinische Diagnostik des Tinnitus. Standardisiertes Tinnitus-Interview (STI). HNO aktuell 2 (1994), 281 - 288
- Hazell, J. E.:
Guidelines for the management of Tinnitus. In: Churchill Livingstone, 1987
- Lenarz, T.:
Medikamentöse Tinnitus-Therapie. Thieme, Stuttgart, 1989
- Lenarz, T.:
Einheitliche Evaluierungskriterien für Therapiemethoden bei Tinnitus. Audiol. Akust 31 (1992), 184 - 190
- McFadden, D.:
Tinnitus, Facts, Theories and Treatments. National Academy Press, Washington, 89 - 116, 1982
- Verschuure, J.; Knegt, P. P. M.; Stournaras, E. F.; Pauw, K. H.; Jacobs, J. B.; Feenstra, J.:
Procedural tinnitus treatment in the University Hospital Rotterdam (Poster). In: H. Feldmann (ed.): III International Tinnitus Seminar, Harsch Verlag, 376 - 377, 1987
- von Wedel, H.; Walger, M.; Calero, L.; Hoenen, S.:
Effectiveness of Low-power Laser and Gingko-Therapy in patients with chronic tinnitus. Proc. 5th Internat. Tinnitus Seminar, Portland Oregon 1996, 96 - 98
- Wilhelm, T.; Ruh, S.; Bock, K.; Lenarz, T.:
Standardisierung und Qualitätssicherung am Beispiel Tinnitus. Laryno-Rhino-Otol 74 (1995) 300 - 306
Verfahren zur Konsensbildung:
Konsensuspapier im Auftrag des Präsidiums herausgegeben von Thomas Lenarz, Hannover*
*Mitautoren:
W. Arnold, München; E. Biesinger, Traunstein; U. Brinkmann, Oelde; H. Edlinger, Feldbach; K. Ehrenberger, Wien; G. Goebel, Prien/Chiemsee; K.-V. Greimel, Salzburg; H. Knör, Wuppertal; H. Mackinger, Salzburg; E. Malisa, Salzburg; M. Moser, Graz; M. Walger, Köln; H. von Wedel, Köln; und ADANO (Arbeitsgemeinschaft Deutschsprachiger Audiologen und Neurootologen)
Für die Autoren:
Prof. Dr. Th. Lenarz
Direktor der Hals-Nasen-Ohrenklinik
Medizinische Hochschule Hannover
Carl-Neuberg-Straße 1
30625 Hannover
Tel.: 05 11 / 5 32-65 65
Fax: 05 11 / 5 32-55 58
Erstellungsdatum:
27. 5. 1998
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Stand der letzten Aktualisierung: 27. Mai 1998
Copyright ©: Dt. Ges. f. HNO-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie
Autorisiert für elektronische Publikation: AWMF online
HTML-Code aktualisiert: 12.11.2004; 08:59:00