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Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften |
AWMF-Leitlinien-Register | Nr. 017/010 | Entwicklungsstufe: | 2 | nicht aktualisiert |
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Kostenträger und Medizinischer Dienst der Krankenkassen (MDK) verweigern zunehmend die Kostenübernahme für die (stationäre) Behandlung des Hörsturzes mit der Begründung, die bisher üblichen Therapieverfahren seien nicht "evidenz"basiert, wobei hierunter das Ergebnis von Metaanalysen prospektiver randomisierter klinischer Studien verstanden wird. Den in der Leitliniendefinition vorhandenen Begriff "systematisch" durch "evidenzbasiert" zu ersetzen und damit stark einzuengen, ist aber unzulässig [24], weil selbst in den USA die Clinical practice guidelines niemals ausschließlich evidence-based entwickelt wurden: "Guidelines without Evidence-based Medicine are a problem, but guidelines with Evidence-based Medicine only are a catastrophy" [85].
Hinzu kommt, dass die Begriffe "Evidenz" und "evidence" im deutschen bzw. anglo-amerikanischen Sprachraum eine sehr unterschiedliche Bedeutung besitzen. So erschöpft sich "Evidenz" keineswegs in klinischen Studien oder wissenschaftlichen Experimenten, sondern kann durchaus auch auf Intuition, persönlicher Erfahrung oder Fallberichten beruhen [22]. Außerdem besitzen kontrollierte Studien an selektionierten kleinen Patientenkollektiven mit engen Einschlusskriterien nicht selten eine wesentlich geringere klinische Relevanz als methodisch einen niedrigeren Rang einnehmende, breit angelegte Kohorten- oder Fallkontrollstudien mit hohen Fallzahlen [38]. Es ist deswegen sinnvoll, die "evidence based medicine" als nur ein Element neben anderen bei der Erstellung von Leitlinien anzusehen [59; weitere Informationen: 1].
Im Hinblick auf den Hörsturz wird das Dilemma bereits daraus ersichtlich, dass die "Evidenz"stufen der meisten klinischen Studien nach den Kategorien des Oxford Centre for Evidence-based Medicine (http://www.cebm.net) relativ niedrig sind. Die im Cochrane International Register of Controlled Clinical Trials verzeichneten prospektiven randomisiert, zum Teil placebo-kontrolliert, zum Teil doppelblind durchgeführten Studien weisen zwar einen höheren "Evidenz"grad auf, eignen sich jedoch nicht für allgemein gültige diagnostische und/oder therapeutische Empfehlungen, weil jeder Studie ein anderes Protokoll zugrunde liegt.
Die Teilnehmer der Konsensuskonferenz waren sich darin einig, dass die bisher gültige Leitlinie "Hörsturz" dennoch einer Überarbeitung bedarf. Denn einerseits haben bemerkenswerte Fortschritte in der Innenohrforschung zu einem neuen Verständnis der Erkrankungen dieses Organs geführt und andererseits stellen ökonomische Zwänge nicht nur bisher übliche diagnostische und therapeutische Methoden in Frage, sondern bringen darüber hinaus den Arzt seinen Patienten gegenüber in eine schwierige psychologische und medikolegale Situation.
Vermutlich wird die Diagnose "Hörsturz" nicht immer korrekt angewendet. Denn zum Zeitpunkt der ersten Konsultation des Patienten, wenn wegen des plötzlichen Hörverlustes richtunggebende Entscheidungen zur Diagnostik und Therapie sowie deren Organisation und Management zu treffen sind (und dazu gehört auch die Frage "ambulant oder stationär"), ist der Hörsturz noch keine Krankheitsentität, sondern nur ein Symptom (siehe hierzu den Abschnitt "Differenzialdiagnostik").
Weil, wie gesagt, eindeutige "evidenz"basierte Therapieempfehlungen nicht möglich sind, sollen die von der Kommission erarbeiteten Behandlungsvorschläge, die sich erstmals an pathogenetischen Gesichtspunkten orientieren, auch als rationale Grundlage für zukünftige multizentrische Studien verstanden werden. Dementsprechend richtet sich dieser Konsensusbericht in erster Linie an HNO-Fachärzte/innen.
1. | Störungen der Durchblutung (Gefäßdysregulationen, z.B. durch Vasospasmus und /oder Endothelschwellungen und Dysfunktionen und /oder rheologische Störungen) |
2. | Störungen der Ionenkanäle der Haarzellen mit zellulärer Dysfunktion |
3. | Synaptische Störungen infolge Neurotransmitter-Dysfunktion (Insuffizienz oder Toxizität) |
4. | Efferente Fehlsteuerungen |
5. | Störungen der Ionenkanäle der Zellen der Stria vascularis mit nachfolgenden Elektrolytstörungen in der Endolymphe, u.U. mit Hydrops |
6. | Entzündliche Veränderungen (z.B. endolymphatische Saccitis) |
7. | Unbekannte Pathobiochemie und Pathophysiologie |
Bezüglich der Ätiologie des Hörsturzes wird auf die Differenzialdiagnostik verwiesen (siehe unten).
Hochton-Hörverlust
Wahrscheinliche Pathogenese des Schräg- oder Steilabfalls der Tonschwelle im hohen Frequenzbereich oder der Innenohr-Hochtonsenke ist - in Abhängigkeit vom Ausmaß des Hörverlustes - eine Insuffizienz der äußeren (IOS bis ca. 50 dB Hörverlust) und/oder der inneren Haarzellen (IOS ab ca. 60 dB Hörverlust).
Tiefton-Hörverlust
Aufgrund klinischer und tierexperimenteller Daten beruht die Hörminderung im tiefen Frequenzbereich wahrscheinlich auf einem endolymphatischen Hydrops. Ebenfalls denkbar ist eine lokale Durchblutungsstörung der Lamina spiralis mit hypoxischer Gewebeschädigung und Störung der Elektrolyt-Homöostase.
Pancochleärer Hörverlust
Da alle Frequenzen betroffen sind, werden bereits geringe Hörverluste subjektiv als schwerwiegend empfunden. Als pathogenetisches Substrat kommt vor allem eine Funktionsbeeinträchtigung der Stria vascularis und/oder der zuführenden Gefäße im Sinne einer Durchblutungsstörung und Gewebe-Hypoxie infrage.
Mittelfrequenz-Hörverlust
Pathogenetische Grundlagen der seltenen wannenförmigen Senkenbildung der Tonschwelle im mittleren Frequenzbereich sind kaum untersucht. Als Ursachen werden beispielsweise lokale Durchblutungsstörungen im Bereich der Lamina spiralis ossea mit hypoxischen Schäden des Corti-Organs sowie Gendefekte diskutiert.
Taubheit / an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit
Diese Form des Hörsturzes ist durch das Ausmaß des Hörverlustes, der in der Regel alle Frequenzen betrifft, charakterisiert. Verantwortlich hierfür könnten ein (thrombotischer / embolischer) Verschluss der A. cochlearis communis oder der A. spiralis modioli mit hypoxischer strialer Insuffizienz sein.
Sonstige
Hierunter sind Tonschwellenverläufe zu verstehen, die sich weder in die bereits genannten Gruppen einordnen noch bestimmten IOS-Typen zuordnen lassen. Ihre Ursache ist unbekannt. Im weiteren Sinne gehören in diese Gruppe auch stark fluktuierende Hörschwellen und der Hörsturz mit Progredienz der Schwerhörigkeit unter der Therapie, z.B. infolge Liquordruckänderung und/oder immunpathologischer Mechanismen.
Primäre Beschwerden (in der Reihenfolge ihrer Häufigkeit)
Sekundäre Symptome (Beispiele)
Für die Diagnostik des Hörsturzes ergibt sich demnach folgendes:
* Cave: Lärmbelastung! Deswegen frühestens eine Woche nach dem akuten Hörverlust durchführen)
Es gibt nur 9 kontrollierte Studien, in denen keine Therapie [61; 105] oder eine Placebo-Therapie [13; 20; 21; 48; 63; 79; 105] gegen ein Verum prospektiv, randomisiert und doppelblind geprüft wurde (hohe "Evidenz"). Bei den übrigen Spontan-Heilungs-Studien handelt es sich um nicht-kontrollierte Studien oder retrospektive Karteikarten-Auswertungen mit geringer "Evidenz" [12; 67; 99; 101].
In 30 kontrollierten Studien wurden zwei unterschiedliche Mono- oder Kombinationstherapien prospektiv, randomisiert, aber nur zum Teil auch doppelblind geprüft [7; 9; 18; 19; 25; 27; 28; 32; 33; 39; 40; 42; 49; 54; 55; 58; 60; 71; 74; 76; 77; 78; 81; 86; 90; 92; 93; 64; 96; 97; 98; 102; 104]. Weitere 3 kontrollierte Studien waren zwar auch prospektiv, aber nicht randomisiert durchgeführt worden [29; 31; 95].
Dagegen wurden die meisten Studien nicht-kontrolliert (d.h. es wurde nur eine Therapiemodalität getestet) oder retrospektiv (d.h. Karteikarten-Auswertungen) durchgeführt. Da solche Studien eine relativ geringe "Evidenz" haben, wurden nur jene in das Literaturverzeichnis übernommen, in denen mindestens 50 Patienten ausgewertet wurden und in denen die Remissions-Raten, d.h. der prozentuale Anteil von Teil- und/oder Vollremissionen angegeben wurden [2; 5; 6; 11; 23; 26; 35; 36; 37; 41; 44; 56; 57; 64; 65; 66; 68; 69; 72; 75; 80; 84; 87; 88; 103; 107; 108; 109]. Aber selbst die wenigen oben genannten kontrollierten prospektiven Therapiestudien kommen nicht zu einheitlichen Resultaten.
Auch der Begriff der Spontanheilung wird hinsichtlich einer Voll- oder Teil-Remission unterschiedlich verstanden. Zudem konnten keine reproduzierbaren Daten ermittelt werden: Chen et al. [12] haben bei 31% der 52 Patienten, Wilson et al. [105] haben bei 56% der 52 Patienten und Weinaug [101] hat bei 89% der 63 Patienten eine spontane Remission beobachtet; der Anteil der Patienten mit einer Voll-Remission wurde nur bei Weinaug [101] erwähnt: angeblich 68%. In den anderen Spontan-Heilungs-Studien wurden nur 9 Patienten [67], 19 Patienten [99] oder 28 Patienten [61] untersucht.
Insofern ist die spontane Vollremissionsrate, d.h. der prozentuale Anteil an Patienten, die ohne Therapie eine vollständige Erholung des Gehörs gezeigt haben, nur aus einer einzigen nicht-kontrollierten und deshalb wenig "evident"en Studie mit nur 63 Patienten bekannt [101].
Gleiches gilt für die placebo-kontrollierten Studien: Desloovere et al. [20; 21] haben bei 51% bzw. 58% der 48 bzw. 75 Patienten eine Placebo-induzierte Teil (!) - Remission beobachtet; der prozentuale Anteil der Voll-Remissionen wurde nicht erwähnt. Probst et al. [79] haben nur den mit Placebo erzielten durchschnittlichen Hörgewinn berechnet, jedoch nicht angegeben, bei wie vielen der 67 Patienten damit eine Vollremission erreicht wurde. In den anderen Studien wurden nur 11 [63], 14 [48], 20 [13] und 34 placebo-therapierte Patienten [105] ausgewertet.
Aus diesen Gründen sind die nachstehend beschriebenen Therapie-Optionen als Behandlungsvorschläge zu verstehen.
Nicht jeder Hörsturz bedarf einer sofortigen Behandlung. Es kann bei informierten Patienten und geringfügigen Hörverlusten ohne Beeinträchtigung des sozialen Gehörs zunächst einige Tage lang eine Spontanremission abgewartet werden. Bei ausgeprägtem Hörverlust, vorgeschädigten Ohren sowie bei zusätzlichen vestibulären Beschwerden und/oder Ohrgeräuschen ist eine abwartende Haltung nicht indiziert.
Die Anwendung z.B. von HES und/oder Pentoxifyllin kann für bestimmte Formen des Hörsturzes zweckmäßig sein.
HES kann wegen seiner Nebenwirkungen, insbesondere wegen der Möglichkeit des therapieresistenten Pruritus, allerdings nicht vorbehaltlos empfohlen werden [4; 30; 70]. Deshalb sollte man Nutzen und Risiko von HES-Infusionen sorgfältig gegeneinander abwägen, wobei eine HES-Gesamtdosis von 300 g nicht überschritten werden darf.
Nach Probst et al. [79] unterschied sich der Hörgewinn nach Pentoxifyllin-Infusionen bei 53 Patienten statistisch nicht signifikant von dem bei 67 Placebo-therapierten Patienten: 16 dB in der Pentoxifyllin-Gruppe versus 23 dB in der Placebo-Gruppe. Racic et al. [80] haben kürzlich den gleichen Hörgewinn, nämlich 21 dB, ermittelt, aber nur bei 18% der 51 von ihnen behandelten Patienten, 82% zeigten keine Hörverbesserung.
Dextrane werden zur Hämodilution ebenfalls häufig eingesetzt. Durch die Verwendung des Monomers Promit lassen sich allergische und pseudoallergische Reaktionen weitgehend vermeiden. Der Hörgewinn nach Dextran-Infusionen mit Pentoxifyllin-Zusatz bei 64 Patienten war aber statistisch nicht signifikant größer als der bei 67 placebo-therapierten Patienten: 20 dB in der Dextran/Pentoxifyllin-Gruppe versus 23 dB in der Placebo-Gruppe [79].
Insgesamt wurde in allen Studien, die jeweils mindestens 50 rheologisch behandelte Patienten enthielten, weder größere Hörgewinne noch höhere Remissionsraten erreicht als beispielsweise mit einer Glukokortikoid-Therapie [2; 9; 19; 20; 21; 33; 35; 40; 41; 42; 49; 55; 56; 57; 60; 65; 71; 78; 79; 80; 81; 86; 87; 92; 93; 102; 103; 104; 108]. Berücksichtigt man nur die kontrollierten, prospektiv und randomisiert durchgeführten Studien mit mindestens 50 rheologisch behandelten Patienten, also jene mit einer relativ hohen Evidenz, kommt man auf eine Remissionsrate von 55-79% mit einem Hörgewinn von 10-14 dB im Hochtonbereich und 18-25 dB im Mittel- und/oder Tieftonbereich [9; 19; 20; 33; 40; 49; 55; 60; 71; 78; 79; 81; 86; 92; 93; 102; 104]. Nur in 6 dieser Studien wurde die Vollremissionsrate, d.h. der Anteil an Patienten, deren Gehör sich nach der Behandlung normalisiert hatte, erwähnt. Sie lag bei 14% [81], 23% [71], 28% [42], 42% [104], 46% [9] und 50% [19], wobei es sich vornehmlich um Tief- oder Mittelton-Hörstürze gehandelt hatte.
Ad 2: Antiödematöse Therapie
Die Wirksamkeit von Glukokortikoiden wurde in den bisher publizierten Studien kritisch diskutiert [11; 12; 13; 26; 34; 39; 41; 42; 49; 61; 67; 74; 86; 90; 91; 95; 97; 98; 99; 105; 107].
Berücksichtigt man nur die kontrollierten, prospektiv und randomisiert durchgeführten Studien mit mindestens 50 Glukokortikoid-behandelten Patienten, also jene mit einer relativ hohen Evidenz, findet sich eine Remissionsrate von 59-87% mit einem Hörgewinn von 12-19 dB im Hochtonbereich und 20-34 dB im Mittel- und/oder Tieftonbereich [39; 49; 61; 86; 97; 98]. Nur in einer dieser Studien wurde die Vollremissionsrate angegeben: 36% der 66 behandelten Patienten erlangten wieder ihr normales Gehör [39]. Die zusätzliche Behandlung mit rheologisch wirksamen Medikamenten ergab weder größere Hörgewinne noch höhere Remissionsraten [2; 6; 19; 23; 26; 41; 54; 64; 66; 68; 84; 92; 93].
Deshalb empfiehlt die Kommission, als alternative initiale Therapie des Hörsturzes Glukokortikoide einzusetzen. Die Glukokortikoid-Therapie soll 3 Tage mit jeweils mindestens 250 mg Prednisolon oder einem anderen synthetischen Glukokortikoid mit äquivalenter Dosierung durchgeführt werden [43; 51].
Bei einem Ansprechen der Hörstörung auf diese Maßnahme wird die Therapie mit absteigender Dosierung fortgesetzt, bei ausbleibender Besserung erfolgt die weitere Behandlung unter Berücksichtigung der pathogenetischen Grundlagen nach den in Tab. 2 dargestellten Prinzipien.
Ad 3: Ionotrope Therapie
Aus experimentellen Untersuchungen ist bekannt, dass die hochdosierte intravenöse Gabe von Lokalanästhetika wie Lidocain oder Procain im auditorischen System Ionentransportprozesse der sensorischen Zellen (Transduktionskanäle), der Zellen der Stria vascularis (Ionentransport) sowie der afferenten Synapsen der inneren Haarzellen (z.B. NMDA-Rezeptor-assoziierte Ionenkanäle) beeinflussen kann. Die klinische Relevanz dieser Effekte ist durch Studien vornehmelich an Tinnituspatienten belegt [114a]. Bei Überdosierung kann es zu Krampfanfällen, zentraler Atemlähmung und Herz-Kreislaufversagen kommen; die ionotrope Therapie muss deswegen unter stationären Bedingungen durchgeführt werden.
Ad 4: Reduktion des Endolymphvolumens
Die Dehydratationstherapie in Anlehnung an Vollrath et al. [100] wurde von der Kommission intensiv diskutiert. Für ihre Anwendung spricht die Vorstellung, dass es sich bei den Hörstürzen im mittleren und tiefen Frequenzbereich wahrscheinlich um die Folgen eines endolymphatischen Hydrops handelt. Die Nebenwirkungen und das Risiko einer temporären, unter Umständen persistierenden Verschlechterung des Gehörs sind zu beachten [8; 16; ref. in 62].
Ad 5: Antioxydanzien
Zytotoxische reaktive Sauerstoff- und Stickstoff-Spezies (ROS, RNS), auch als sog. freie Radikale bezeichnet, entstehen physiologisch in allen Zellen und werden durch endogene zelluläre antioxdative chemische Verbindungen und Enzyme neutralisiert. In experimentellen Studien wurden im Innenohr eine erhöhte ROS- und RNS-Produktion und eine Depletion der endogenen Antioxidanzien in metabolisch dekompensierten Zellen - z.B. nach Schallbelastungen oder anders induzierter Durchblutungsstörung - sowie nach Applikation ototoxischer Substanzen - z.B. Cisplatin, Aminoglykoside - gemessen. Wurden prophylaktisch synthetische Antioxidanzien, etwa die auch klinisch zugelassene alpha-Liponsäure verabreicht [14; 15; 82], konnten die Zellschäden und Hörverluste signifikant vermindert werden. Ob die Antioxidanzien auch therapeutisch, d.h. nach den stattgehabten Insulten wirksam sind, wird zur Zeit in experimentellen Studien untersucht.
Beim Hörsturz wurde kürzlich die zusätzliche Gabe des möglicherweise antioxidativ wirkenden Vitamin E in einer Dosierung von 2 x 400 mg/d zur Standardtherapie mit Glukokortikoiden getestet, allerdings nur an 33 Patienten / Gruppe, womit sich keine ausreichende statistische Power ergibt [39]. Zudem war der Anteil der Patienten mit kompletter Remission in beiden Test-Gruppen gleich (13/33 bzw. 11/33).
Ad 6: Thrombozytenaggregationshemmung
Ein für kardiovaskuläre Erkrankungen in der Akuttherapie und zur Prävention eingesetztes Prinzip, welches zumindest potentiell auch bei Hörsturz wirksam sein könnte. Kontrollierten Studien zur Wirksamkeit liegen jedoch nicht vor. Bei Verwendung von Acetylsalicylsäure ist die Ototoxizität, die bei hoher Dosierung auftritt und reversibel ist, zu beachten.
Ad 7: Fibrinogenabsenkung durch Apherese
Das Absenken von Fibrinogen reduziert die Plasmaviskosität und senkt die Neigung zur Aggregation von zellulären Bestandteilen des Blutes. Ob eine Auflösung von noch nicht Fibrin-stabilisierten zellulären Aggregaten in der Endstrombahn möglich ist, wird diskutiert. Die Effektivität der Fibrinogenabsenkung bei Hörsturzpatienten ist durch zwei prospektive randomisierte Studien belegt [49; 93]. Wegen der geringeren Nebenwirkungen und seiner guten Steuerbarkeit empfiehlt die Kommission zur Senkung des Fibrinogens den Einsatz eines Aphereseverfahrens, dessen Wirksamkeit in einer klinischen Studie beim Hörsturz untersucht ist. Zusätzliche positive Effekte der Apherese auf die Endothelfunktion sind von der Reduktion des LDL-Cholesterins und des Lipoproteins (a) zu erwarten.
Ad 8: Hyperbare Oxygenierung
Ebenfalls intensiv diskutiert wurde der Stellenwert der hyperbaren Sauerstofftherapie (HBO) bei der Behandlung des Hörsturzes. Studien über eine HBO-Monotherapie bei medikamentös erfolglos vorbehandelten Patienten [ref. in 50; 53] zeigen teilweise einen Höranstieg nach HBO, sofern der Erkrankungsbeginn nicht länger als 3 Monate zurücklag [36; 37; 44; 69; 72; 75; 88].
Der Effekt einer primären HBO-Monotherapie wurde retro- und prospektiv untersucht [5; 25; 27; 45; 80; 109]. Flunkert et al. [27] und Kestler et al. [45] weisen auf die Gleichwertigkeit der HBO und einer rheologischen Infusionstherapie beim Hörsturz hin. Aslan et al. [5], Fattori et al. [25] sowie Racic et al. [80] haben bei den HBO-behandelten Patienten signifikant größere Hörgewinne (31-46 dB) bei signifikant mehr Patienten (84-89%) ermittelt als in den konventionell mit Rheologika und/oder Glukokortikoiden 1therapierten Vergleichsgruppen, die keine HBO erhalten hatten. Die Vollremissionsrate betrug 47% bei den 51 HBO-therapierten Patienten, jedoch nur 6% bei den 64 rheologisch behandelten Patienten [80].
Auf der anderen Seite gibt es aber auch Erfahrungen über die Erfolglosigkeit und unerwünschte Nebenwirkungen der HBO. Die Konsensus-Kommission sieht die Möglichkeit, die HBO als Therapie für mit anderen Methoden erfolglos behandelte Fälle vorzuhalten und empfiehlt im übrigen, ihre Effektivität im Rahmen geeigneter Studien zu überprüfen.
Kombination von Arzneimitteln
Kombinationen von Arzneimitteln können bei der Behandlung des Hörsturzes zweckmäßig sein. Dabei sind die Kompatibilität und mögliche Wechselwirkungen der Substanzen zu beachten.
Nebenwirkungen/Komplikationen
Auf die Nebenwirkungen und Komplikationen der empfohlenen Arzneimittel bzw. Behandlungsmaßnahmen wird nicht speziell hingewiesen, sie werden vielmehr als bekannt vorausgesetzt.
Die von der Kommission als obsolet angesehenen Behandlungsverfahren sind in Tabelle 3 aufgeführt.
Differenzialtherapie
Weil eindeutige "Evidenz"-basierte Therapieempfehlungen auf der Basis prospektiver randomisierter, placebokontrollierter Doppelblindstudien mit ausreichender statistischer Power letztlich nicht vorhanden sind, sollen die von der Kommission erarbeiteten Behandlungsvorschläge, bei denen erstmals der Versuch unternommen wird, sich an pathogenetischen Gesichtspunkten zu orientieren, auch als rationale Grundlage für zukünftige multizentrische Studien verstanden werden. Deshalb richtet sich dieser Konsensusbericht - wie weiter oben bereits gesagt - in erster Linie an HNO-Fachärzte/innen und weniger an die Betroffenen. Sofern nicht ausdrücklich angegeben, beinhaltet die Reihenfolge der Behandlungsvorschläge keine Wertung.
Hochton-IOS
Tiefton-IOS
Mittelfrequenz-IOS
Pantonale IOS
Taubheit / an Taubheit grenzende IOS
Sonstige IOS
Therapie für mit anderen Methoden erfolglos behandelte Fälle
Hyperbare Oxygenierung
Anhang 1Besonderes berufliches BetroffenseinEine Besonderheit ist besonderes berufliches Betroffensein. § 33 des Sozialgesetzbuches (SGB) IX sieht vor, dass "zur Teilhabe am Arbeitsleben ... die erforderlichen Leistungen erbracht (werden), um die Erwerbsfähigkeit Behinderter oder von Behinderung bedrohter Menschen entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit zu erhalten, zu verbessern herzustellen oder wiederherzustellen und ihre Teilhabe am Arbeitsleben möglichst auf Dauer zu sichern". Sollte im Einzelfall der behandelnde Arzt erkennen, dass die erforderlichen Leistungen nur unter stationären Bedingungen erbracht werden können, empfiehlt die Kommission die unverzügliche Feststellung des Leistungsträgers sowie die Beantragung der Kostenübernahme beim Leistungsträger. Da die Feststellung des Leistungsträgers schwierig sein kann, wird die Einschaltung der "gemeinsamen örtlichen Servicestelle der Rehabilitationsträger" gemäß § 22 (1) SGB IX, empfohlen. |
Anhang 2:Kontrollierte Studien zum Hörsturz(Auszug aus Cochrane Controlled Trials Register, PDF-Dokument) |
* Mitglieder der Konsensuskonferenz:
Prof. Dr. K. W. Albegger, Salzburg; Prof. Dr. W. Arnold, München; Dr. E. Biesinger, Traunstein; Prof. Dr. T. Brusis, Köln; Prof. Dr. U. Ganzer, Düsseldorf (Vorsitz); Prof. Dr. K. Jahnke, Essen; Dr. M. P. Jaumann, Göppingen; Priv.-Doz. Dr. E. Klemm, Dresden; Prof. Dr. U. Koch, Hamburg; Prof. Dr. Kerstin Lamm, München; Prof. Dr. T. Lenarz, Hannover; Prof. Dr. O. Michel, Köln; Prof. Dr. R. Mösges, Köln; Prof. Dr. R. Probst, Basel; Prof. Dr. J. Strutz, Regensburg; Dr. M. Suckfüll, München; Dr. Margit Vasseur, Freiburg (MDK, beratende Funktion); Prof. Dr. M. Westhofen, Aachen; Prof. Dr. Dr. hc. H.-P. Zenner, Tübingen
Konsensfindung: Nominaler Gruppenprozeß, Bonn, 16./17. 11. 2001 und Baden-Baden, 07. 05. 2002, Freigabe durch das Präsidium der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie im Dezember 2002
Kostenträger: Die Kosten für die Konsensuskonferenzen und die Erstellung dieser Leitlinie wurden ausschließlich von der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie sowie den Konferenzteilnehmern persönlich getragen. Ein Sponsoring durch Dritte, beispielsweise Industrie oder Krankenkassen, hat nicht stattgefunden.