Zwang und ADHS : Zusammenhänge von HKS und Zwangsstörung

Gechrieben von: Dr. Martin Winkler

Erstversion: 2005-08-06. Letzte Änderung: 2015-01-09.

Frage:

 Gibt es einen Zusammenhang von ADHS / HKS und Zwängen / Zwangsstörung?

Antwort:

Man schätzt, dass bei bis zu 20 Prozent aller Zwangspatienten eine ADHS-Veranlagung besteht bzw. mehr als 20 Prozent aller ADHS-Klienten auch Zwänge bzw. Zwangsgedanken und zwanghafte Verhaltensweisen aufweisen. Zusätzlich ist zu berücksichtigen, dass es neurobiologische Verwandtschaften zum Tourette-Syndrom gibt, bei dem neben ADHS-Symptomen, Zwänge und sogenannte Tics (motorische Störungen oder vokale Lautäußerungen, die nicht unterdrückt werden können).

Bis vor wenigen Jahren hat man gemeint, dass sich eine Zwangsstörung mit Zwangsgedanken und Zwangshandlungen ganz eindeutig von einem Hyperkinetischen Syndrom bzw. ADS/ ADHS auch neurobiologisch abgrenzen lasse. Beide Erkrankungen weisen Abweichungen im Bereich der sog. Behavioralen Inhibition auf. Damit ist grob gesagt ein Kontrollsystem im Vorderhirn (Frontalhirn) gemeint, dass signalisiert, wann eine Handlung bzw. Gedanken "o.K" sind.

Bei Patienten mit einer Zwangsstörung lässt sich nun eine gesteigerte Behaviorale Inhibition beschreiben, d.h. die Patienten haben ein übermässiges Kontrollsystem, so dass sie immer und immer wieder bestimmte Gedanken oder Handlungen wiederholen müssen bis sie einem fiktiven inneren Idealzustand erreichen. Im Prinzip signalisiert ihr Gehirn ihnen aber nie, dass dieser Zustand erreicht wäre. Das Nicht-Erreichen dieses Zustandes wird als Unruhe bzw. Angst wahrgenommen. Patienten mit einer Zwangsstörung befürchten z.B., dass ihnen oder Angehörigen etwas negatives passieren könnte, wenn sie die Zwänge nicht "korrekt" ausführen.

Bei einem Hyperkinetischen Syndrom (ADS / ADHS) dagegen lässt sich eine verminderte Behaviorale Inhibition darstellen. Vereinfacht dargestellt, kann ihr Kontrollsystem gerade wichtige und unwichtige Informationen nicht erkennen oder "schläft". Es treten entweder zu viele oder aber irrelevante Informationen auf, so dass Entscheidungsprozesse nicht vernünftig gelingen. Rituale bzw. Zwangsgedanken und Zwangshandlungen sind dabei als (letztlich natürlich ungeeigneter) Versuch anzusehen, eine Kontrolle über das innere Chaos der eigenen Gedankenwelt zu erreichen. Das Gehirn wird über wiederkehrende Gedanken und Handlungen in "Betrieb" gehalten, so dass Zwänge in dieser Form auch eine Art Selbststimulation eines unteraktiven Gehirns sein können.

Typisch für zwanghaftes Verhalten von ADHS-Klienten ist somit, dass sie mehr oder weniger reale Hintergründe für ein Vergessen oder Verpatzen von Situationen haben. Beispielsweise wäre eben die Befürchtung den Herd anzulassen oder vielleicht das Badewasser nicht abgedreht zu haben, eine mehr oder weniger realistische Befürchtung bei einem ADHS-Klienten. Sie kann auf einer realen Grundlage bestehen, vielleicht aber aktuell ohne direkten Realitätsbezug stehen. Übliche Expositionsbehandlungen bei einer Zwangsstörung werden hier wenig hilfreich sein.

Über perfektionistische oder zwanghafte Verhaltensweisen wird das Gehirn ständig beschäftigt, was auch gegen innere Langeweile bzw. eben ein zu niedriges allgemeines Aktivierungsniveau "helfen" kann. Dies tritt besonders im Zusammenhang mit Lernstörungen bei jungen Patienten gehäuft auf.

Eine erfolgreiche Therapie wird sowohl die neurobiologischen Grundlagen der ADHS bzw. Zwangsstörung berücksichtigen und ggf. medikamentöse Behandlungen kombinieren (z.b. Stimulatien und ein Antidepressivum aus der Gruppe der SSRI). Zudem wird man eine störungsspezifische Behandlung von ADHS vor dem Hintergrund der Zwangsstörung anbieten müssen. Entsprechende gezielte Therapieangebote sind derzeit jedoch in Deutschland nur sehr selten zu finden.

Dr. Martin Winkler

Oberarzt Psychosomatik, Saale Klinik 1, 06628 Bad Kösen